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Full text of "Der Sozialistische Arzt. Vierteljahrszeitschrift des "Vereins Sozialistischer Ärzte". III. Jahrgang. Nr. 1-2. August 1927."

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DER SOZIALISTISCHE ARZT 

Vierteljakrszeitsdirift des „Vereins Sozialistischer Ärzte“ 

Geleitet von E. Simmel und Ewald Fabian 

in. Jahrgang Nummer 1/2 August 1927 

MlMWiiliimiliimimiiiiffliiHwimimiHlMilffliniMJIM 



INHALT 

Zur Hrztekammerwahl, J. Zadek / Der Kampf gegen die Wohnungs: 
sozialen und hygienischen Standpunkt, mit Diskussionsbemerkunger 
Gruschka-Hussig, E. Rüben / Leitsätze des VSH zum Wohnungspi 
Uber Unfall- und Kriegsneurosen, Die gegenwärtige ärztliche und 
Lage, mit Diskussion, Dr. med. Max Levy-Suhl, / Fünfjähriges Bestehen des 
Lehrstuhls für soziale Hygiene in Sowjet-Rußland, N. Semasdiko / Zur Re- 
form des medizinisdien Studiums, Dr. W. Hanauer, Herta und W. Riese / Arbeits- 
therapie, Paul Levy / Nochmals „Kritische Bemerkungen zur Gesolei“ Max 
Hodann / Rundschau: (Die Wiener Polizei gegen das Sanitätspersonal; Höfle 
und Kutisker; Gesundheitswoche in der tschecho-slowakischen Republik; Me- 
dizin in China; § 218 in der Schweiz; Die Zersplitterung im Krankenkassen- 
wesen; ÄrztekongreB in Moskau; Der 8. Bundestag des Ärbeiter-Samariter- 
Bundes; Aus der sozialistischen Hrztebewegung) I Bücher und Zeitschriften 



■niURBuigiiiagiiiHBiiiHiainniaiuaii 
saBaBBuaBBBaauBBaauBasBS9uuuuuuuuuBuauui 


55 „Herzte- Literatur und Proben auf Wunsdi“ j 


MHI 


Arznei 

Verordnungsbuch 

1927 ' 

» 

Sammlung von Grundsätzen und Richtlinien 
einer wirtschaftlichen Verordnungsweise 

Für die Kassenpraxis 

Herausgegeben 

vom Hauptverband deutscher Krankenkassen c. /• 

Berlin, Juni 1927 


Äufgenommen 


Seite 25 

DIGIPÄN Cardiotonicum 

ff 

27 

EPITHENSÄLBE Wundheiisalbe 

ff 

27 

ERGOPÄN Secalepräparat 

ff 

28 

FÄEXÄLIN Hefepräparat 

ff 

29 

G ONO CIN Antigonorrhoicum 

ff 

30 

HÄEALÄTOGEN „Temmler“, Roborans 

ff 

35 

MENOSTÄTICUÄ Hämostypticum 

ff 

40 

PHENÄPYRIN Äntipyreticum 

ff 

44 

S GÄBEN Äntiscabiosum 

ff 

45 

SIRÄN Antiphthisicum-Expectorans 

ff 

47 

TH YMO S ÄTU M. Keudihustenmittel 


mM international 

&■ PSYCHOANALYTIC * 

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DIE PSYCHOANALYTISCHE UNIVERSITÄT IN BERLIN 

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WICHTIGE NEUERSCHEINUNG 


F. C WEISK OPF 

UMSTEIGEN 
INS 21. JAHRHUNDERT 

22 EPISODEN 

VON EINER REISE DURCH DIE SOWJET -UNION 


Kartoniert M. 2.40 



In Leinen M. 3.80 


Weißkopf bereiste im Sommer 1926 die Sowjetunion bis in ihre asiatischen 
Gebiete. Der russischen Sprache vollkommen mächtig, dringt er wie wenige 
Deutsche vor ihm in das östliche Leben ein. Unter Verzicht auf langatmige 
Reiseschilderungen und Aneinanderreihung von Daten und Zahlen gibt er 
seinem Erleben Form, und zugleich Antwort auf die Frage: Wie sieht 

der russische Alltag aus, was denkt, tut, spricht, hofft 
und befürchtet der Durchschnittsbürger der Union? Dies 
Buch ist mehr als ein aktueller Bericht, es ist lebenswahr und gleichseitig von 
dauerndem Wert, Dichtung, die jenseits theoretischer Vergewaltigung oder journa- 
listischer Verflachung die Wahrheit über die Welt des Ostens aussagt. 


Einige Kapitelüberschriften: 

Die Feinde von Minsk / Von Frauen, Kutschern und 
Kremlglocken j Gelbes Dynamit / Von Büchern, Naphta, 
verbotenen Tänzen, Zeitungen und Zigaretten / Im Gasthof 
zur heiligen Dreifaltigkeit / Die Todgeweihten / Der Motor 

Attila und Radio. 



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III! 




.. 



in. Jahrgang Nummer 1/2 August 1927 

iiiii»iiBi m ii ii i i iiii r ii ni ui>uiniJ))iiiiH)»tkwniii im iiiiiiiiuiiimmim mi TOi mi i i iii i iiiHu ii i ii iiHiii;iHnimiiiiiiiiiiiiiiiw i »iiwiiiiiiiHimmiH»iiinii 


Zur ^Ärztekammerwab», 

Von J. Z a d e k. 

Tempora mutantur vor einem Menschenalter begrün- 

deten die im Ärztevereinsbund organisierten Ärzte in einer Ein- 
gabe an die gesetzgebenden Körperschaften die Notwendigkeit, 
Ärztekammern mit Ehrengerichtsbarkeit zu schaffen, ’ mit dem Hin- 
weis auf die zunehmende Zahl sozialistischer Ärzte und die daraus 
für den Ärztestand und die Allgemeinheit drohenden Gefahren. 

Es war die Zeit des kommenden Sozialistengesetzes, der Äch- 
tung und Entrechtung aller unter den Begriff der sozialistischen, 
kommunistischen „auf den Umsturz der bestehenden Gesellschaft“ 
gerichteten Bestrebungen, die Zeit, als die sozialistischen Ärzte, 
besonders in der Provinz, in Klein- und Mittelstädten aufs ärgste 
von den Herren Kollegen angefeindet und geächtet, geschnitten 
und boykottiert wurden, ihnen der Eintritt in die kollegialen Ver- 
eine verweigert wurde oder der Ausschluß drohte, wenn sie bereits 
Mitglieder waren. 

Seitdem hat sich in der Stellung der Ärzteschaft zu den 
sozialistischen Ärzten so manches geändert — die vielen hundert 
zu uns sich zählenden Kollegen wissen heute kaum etwas von' 
diesen, aus den Anfängen der proletarischen Bewegung datierenden 
Feindseligkeiten und Boykotts. Die große gewerkschaftliche 
Ärzteorganisaiion, die inzwischen an die Stelle der überlebten 
Standesvereine getreten ist und ausdrücklich jede parteipolitische 
(wie konfessionelle) Tendenz ablehnt, hat längst die Mitgliedschaft 
der sozialistischen Kollegen schätzen geiernt 

Auch in der Ärztekammer für Berlin und die Provinz Branden- 
burg saßen schon bisher und sitzen auch jetzt sozialdemokratische 
Kolleg«! und erfreuen sich — wie insbesondere unser viel zu früh 
verstorbener Raphael Silberstein — ganz besonderer Wertschätzung 
und Beachtung. Durch den jetzt zum ersten Mal für die Wahl zur 
Ärztekammer in Anwendung kommenden Proporz sind aber nun- 
mehr die sozialistischen Ärzte in der Lage, auf breitester Grund- 
läge Propaganda innerhalb der Ärzteschaft zu treiben, für die 
Wahl sozialistischer Ärzte und die Beeinflussung der Arbeiten der 
Ärztekammer im Sinn der Verwirklichung ihrer Forderungen zu 
wirken, — soweit dies auf dem Boden der heutigen Gesellschaft 
möglich ist 

m 


4 


Zur Hrztekämmerwahl 

Als die „geborenen Anwälte der Armen“ (Virch'ow) sind es wir 
Ärzte, denen jeder Tag in der Praxis die Klassenunterschiede vor 
Augen führt, im jetzt besonders krassen Wohnungseiend mit den 
sich daraus ergebenden gesundheitlichen und sittlichen Gefahren, 
der pfuscherischen Schwangerschaftsunterbrechung, der Verbrei- 
tung von Infektionen, insbesondere der Geschlechtskrankheiten, der 
Entwicklung von Rachitis, Scrophulose und Tuberkulose in luft- 
und lichtlosen, überfüllten und schmutzigen Löchern — wie kaum 
ein zweiter Beruf bekommt der Arzt tiefe, erschütternde Einblicke 
in die sozialen Verhältnisse des Proletariats, muß er mit Ferdi- 
nand Lassalle die „verdammte hygienische Bedürfnislosigkeit“ 
desselben beklagen. Wie oft scheitern all seine fürsorgerischen und 
therapeutischen Bemühungen an der Unüberwindlichkeit der ent- 
gegenstehenden sozialen Verhältnisse! Für den denkenden Arzt liegt 
fast täglich der Anlaß vor, sich mit der sozialen Frage, der Ursache 
und Wirkung des gesundheitlichen Elends zu beschäftigen und Auf- 
klärung und Anschluß bei den Parteien zu suchen, welche die Be- 
seitigung der Klassenunterschiede anstreben, die Befreiung des 
Arbeiters von wirtschaftlichen und geistigen Fesseln, die Verwirk- 
lichung der Forderungen der sozialen Hygiene. 

Die kapitalistische Produktionsweise, weiche das platte Land 
entvölkert und die modernen Riesenstädte mit ihrem Wohnungs- 
elend, ihrer Körper und Geist aufreibenden Hast geschaffen hat, 
welche die Familie aufgelöst hat, indem sie Frau und Kinder zur Er- 
werbsarbeit nötigt, sie ist auch an dem ärztlichen Beruf nicht, spurlos 
vorbeigegangen. An die Stelle des alten Hausarztes, des bestän- 
digen Beraters der Familie in gesunden und kranken Tagen, der 
mit einem meji$t recht bescheidenen Jahresfixum gewissenhaft 
seine Klientel versorgte, ist ein kaufmännisch rechnender Gewerbe- 
treibender getreten, der pro Leistung bezahlt wird und entsprechend 
seinen Ausgaben seine Einnahmen zu erhöhen sucht durch Beschaf- 
fung eines kostspieligen Armamenturiums, durch Einrichtung beson- 
derer diagnostischer oder therapeutischer Behelfe, durch einen poli- 
klinischen, aus dem Besuch von Krankenkassenmitgliedern sich 
rentierenden Betrieb oder gar durch Aufmachung einer Spezial- 
Klinik zur stationären Behandlung. Das beständige Wachstum der 
Großstädte mit ihrer Wohnungsmisere, die Entwicklung der 
modernen Medizin und Hygiene und nicht zuletzt die sich rasch aüs- 
breitende Arbeiterversicherung brachten eine solche Zunahme von 
Krankenhäusern und Heilstätten mit vorzüglichen Einrichtungen 
für die Krankheitserkennung und -Behandlung, daß den praktizieren- 
den Ärzten mehr und mehr alle ernsten und ansteckenden Erkran- 
kungen, alle operativen Eingriffe, Geburten und schweren Ver- 
letzungen entzogen wurden. 

Kein Wunder, daß mit dieser Erschwerung der ärztlichen Tätig- 
keit auch die ständige Begleiterscheinung der kapitalistischen Ge- 
sellschaft, die wilde Konkurrenz unter den Ärzten Platz griff und 


5 


Zur Rritekammerwahl 

ein oft rücksichtsloser Kampf um den Patienten an die Stelle der 
früher geübten Rücksichtnahme und wahren Kollegialität trat 
Schwieriger noch gestaltete sich dieser ärztliche Konkurrenzkampf» 
als die staatliche Arbeiterversicherung ins Leben trat und insbe- 
sondere die Krankenversicherung immer breitere und bisher als 
Privatpatienten zahlende Be /ölkerungsschichten umfaßte, als über- 
dies durch den Zustrom junger Ärzte zur Kassenpraxis eine ge- 
waltige Steigerung des Angebots eintrat, das die Nachfrage, den Be- 
darf, bei weitem überschritt 

Gegenüber dieser die Ärzte materiell und moralisch schädigen- 
den Entwicklung war es das Gegebene, daß dieselben sich zu einer 
allumfassenden Organisation gewerkschaftlichen Charakters zu- 
sammenschlossen. Die sozialistischen Ärzte haben, dank ihrer 
Schulung in der Partei- und Gewerkschaftsbewegung, die Entwick- 
lung einer solchen demokratischen ärztlichen Organisation als den 
Anfang eines Aufstiegs begrüßt, eines Aufstiegs aus der gegen- 
wärtigen Misere infolge vnn Konkurrenz und Korruption, aus der 
niedrigen Einschätzung des ärztlichen Charakters in eine allgemein: 
geächtete Stellung der Zukunft Aber so nötig auch wir das Be- 
stehen einer solchen, möglichst alle Ärzte umfassenden Organisation 
fänden und im Kampf um die materielle und moralische Hebung 
der Ärzte an ihre Seite treten, so wenig identifizieren wir uns m i t 
allen von dem Verband vertretenen Anschauungen und Forde- 
rungen. 

Weit entfernt, Gegner der Krankenversicherung und der Ver- 
sicherungsträger zu sein, sehen wir in ihnen die ebenso weit- 
schauenden wie energischen Wegbereiter für die von uns ange- 
strebte Sozialisierung im Heilwesen: Versorgung der gesamten Be- 
völkerung durch im Dienst von Gemeinde und Staat stehende, voll- 
amtlich tätige Ärzte, Schaffung weiterer, mit allen modernen Ein- 
richtungen versehener Krankenhäuser und sich an dieselben glie- 
dernder Polikliniken für nicht stationäre Kranke, Ausbau der kom- 
munalen Fürsorge- und Behandlungsstätten für Säuglinge, Schul- 
kinder, Psychopathen, Geschlechtskranke, Tuberkulöse, Alko- 
holiker, Einrichtung von Eheberatungsstellen, einer ärztlichen Woh- 
nungsaufsicht und Gewerbeinspektion usw. 

In der Bewertung dieser fundamentalen Umgestaltung der ärzt- 
lichen Tätigkeit, der Erweiterung des .rtirsorgerischen Aufgaben- 
kreises von Staat und Gemeinde unterscheiden wir Sozialisten uns 
ganz wesentlich von den bürgerlichen Ärzten, welche zwar diese 
Entwicklung zur Sozialisierung des gesamten Gesundheitswesens 
ebenfalls sehen, aber aufzuhalten und möglichst zurückzuschrauben 
suchen. 

Auch im Konflikt mit den Krankenkassen ^unterscheidet sieb 
unsere Stellungnahme von dem des Gros der bürgerlichen Ärzte. 
Nicht daß wir sozialistischen Ärzte die großen Mängel der Kran- 
kenversicherung, so wie sie jetzt ist, verkennen oder uns. in der 

. 2 


5 Zur "Hrztekainmerwahl 

Bewertung ärztlicher Arbeit von unsern Kollegen im Verband 
trennen; aber während die bürgerlichen Kollegen die immer weitere 
Ausdehnung des Kreises der Versicherten auf das entschiedenste 
bekämpfen, sich Jahrzehnte lang gegen die Familienversicherung, 
gegen Angliederung poliklinischer Ambulatorien an die Kranken- 
häuser, gegen die Errichtung diagnostisch-therapeutischer Institute, 
seitens der Versicherungsträger,- gegen deren Krankenhäuser, Re- 
konvaleszentenheimen und Sanatorien in Kurorten gesträubt haben, 
sehen wir sozialistischen Ärzte auch hierin eine ebenso notwendige 
wie folgerichtige Entwicklung, die über kurz oder lang zur Soziali- 
sierung des gesamten Heilwesens führen wird — zum' Segen der 
Bevölkerung, aber auch zum Segen des ärztlichen Berufes, aer da- 
mit aus der korrumpierenden Abhängigkeit vom zahlenden Kranken 
und selbstherrlichen Kassenbeamten befreit werden soll. 

Kein Zweifel, daß mit der Umgestaltung des Heilwesens eine 
Planwirtschaft kommen wird, daß an die Stelle der viel zu Vielen, 
die durch die unbeschränkt freie Konkurrenz in der Krankenver- 
sicherung angelockt, den ärztlichen Beruf überfüllt, materieh und 
moralisch entwerte + haben, eine Bedarfswirtschatt treten wird mit 
planmäßiger Verteilung der wirtschaftlich in jeder Beziehung ge- 
sicherten Ärzte auf Stadt und Land — unter Leitung der ärztlichen 
Organisationen. In den sich immer mehr ausbreitenden, mit allen 
moderne Hilfsmitteln ausgestatteten Krankenhäusern, Ambulatorien 
und Fürsorgestellen gründlichst vorgebildet, werden die Arzte die 
hohe Achtung wieder gewinnnen, welche dem Beruf ohne den metal- 
lischen Beigeschmack zukommt, wird das Spezialisten mm wieder 
zurücktreten gegenüber dem Praktiker, der auch dort, wo er mit 
den Spezialärzten zusammenarbeitet, auf dem Lande wie in den 
Städten die Leitung Übernehmer., die Entscheidung herbeiführen 

wird. 

Wenn es gelingt, für diese Anschauungen innerhalb der Ärzte- 
schaft mehr und mehr Boden zu gewinnen, sie für die großen' Auf- 
gaben zu begeistern, die ihrer in Zukunft hayren, wird auch in er 
Gegenwart das Verhältnis zwischen Ärzten und Versicherungs- 
trägern, insbesondere den Krankenkassen, seine jetzige Schär e 
verlieren, werden beide wetteifern in dem gemeinsamen Bestreben, 
das Beste für die Volksgesundheit und Krankheits Verhütung zu 
erreichen. 

Die Stellung des Kassenarztes muß eine ebenso hohe und un- 
antastbare werden wie die des beamteten Arztes, unbeirrt durüi 
Versprechungen oder Drohungen ues Kassenmitgliedes, ^ unbeirrt 
durch die wirtschaftliche Konjunktur, aber auch unoeirrc durcn An- 
fragen und Reskripte der Kassenbeamten. Nur ein aufrechter Mann 
und selbstbewußter Arzt, der stolz ist auf seine Unabhängigkeit 
und die hohe Vertrauensstellung, welche ihm Beruf und Gesetz ein- 
räumen, wird der Aufgabe gewachsen sein, die ihm in der Gegen- 
wart und noch mehr in der Zukunft erwächst: in den oft wider- 



Zur Hrztekamraerwahl 7 

strebenden Interessen von Kassenvorstand und Kassenmitglied die 
unbestechliche und entscheidende Instanz zu sein. 

Zur Erreichung dieser Ärzten und Kassen gemeinsamen Auf- 
gaben und Ziele wird sich auch die Zuziehung von Vertretern der 
Arbeiterversicherung zu den Verhandlungen der Ärztekammer emp- 
fehlen, wird es Sache dersozialistischen Ärzte sein, diesem Zu- 
sammenarbeiten entgegenstehende Vorurteile zu bekämpfen. Allen 
dem Zeitgeist widerstrebenden zünftlerischen Anschauungen und 
Maßnahmen innerhalb der Ärzteschaft. — die nicht selten von einem 
törichten Standesdünkel gegenüber Nichtakademikern, insbesondere 
Arbeitern und ihren Vertretern zeugen, und eine besondere Standes- 
ehre der Ärzte simulieren — wollen wir entgegentreten und an 
Stelle der Neigung zu bürokratischer Bevormundung innerhalb und 
außerhalb der Kammer für eine weitestgehende Mitarbeit, für ein 
Selbstbestimmungsrecht der Kollegen auf demokratischer Basis ein- 
treten. 


Äufruf zur Ärztekammerwahl 

Kollegen und Genossen! 

Zu den im November d. J. in Berlin stattfindenden Wahlen 
zur Ärztekammer wird der „Verein Sozialistischer 
Ä r z t e“ mit einer eigenen Liste, die wir nachstehend veröffent- 
lichen, in den Wahlkampf eingreif en. Die Bemühungen unserer 
bürgerlichen Gegner, eine Einheitssammeiliste zustande zu bringen, 
dürften als gescheitert anzusehen sein. Ein lebhafter, prinzipieller 
Wahlkampf wird zum ersten Male bei dieser Verhältniswahl statt- 
Tinden, bei der wir sozialistischen Ärzte Gelegenheit haben werden, 
unser Programm vor der Öffentlichkeit in Wort und Schrift zu 
verbreiten. Wir ersuchen unsere Mitglieder und die mit uns sym- 
pathisierenden Kolleginnen und Kollegen schon heute, für die 
Liste des Vereins Sozialistischer Ärzte die 
regste Propaganda zu machen. Wir appellieren an die materielle 
und ideelle Unterstützung aller Freunde des V.S.Ä. und bitten drin- 
gend um Meldungen zur Mitarbeit sowie um Übersendung von Bei- 
trägen zum Wahl- und Pressefonds. Der Vorstand des V.S.Ä. 


Quittung. 

Seit unserer letzten Veröffentlichung gingen die folgenden Be- 
träge ein: 

L. 5, — ; J. 5, — ; N. Brann 10, — : Sammlungen in zwei Ver- 
sammlungen 62,70 und 22, — ; H. S. Berlin 200, — ; Levy-Suhl 25, — 
für den „Sozial. Arzt“; von Mitgliedern des V.S.Ä. für die Zeit- 
schrift 188, — M. 

Weitere Sendungen werden erbeten an den Kassierer Dr. F. 
.Rosenthal, Berlin-Wilmersdorf, Kaiserallee 175 (Postscheck-Konto 
Berlin Nr. 189). 


2 * 


Wahlvorschlag des 

„ Verein Sozialistischer 

Ärzte “ zurArztefcammer 

1. I. Zadek 

16. Werner Leibbrand 

2. Leo Klauber 

17: Sophie Alexander 

3. Ernst Simmel 

18. Franz Heimann 

4. Minna Flake 

19. A. Pohl 

5. Otto Juliusburger 

20. Franz Rosenthal 

6. Richard Schmincke 

21. Felix Boenheim 

7. Georg Lötvenstein 

22. Georg Benjamin 

8. Max Hodann 

23. Marthav.Rauschenplat 

9. Ernst Haase 

24. Richard Fabian 

10. A. Freudenberg 

25. Leo Guttmann 

11. Johanna Levay -Hirsch 

26. Ernst Eylenburg 

12. Hans Haustein 

27. Siegfried Tannhauser 

13. Lothar Wolf 

28. Walter Littvdtz 

14. Robert Güterbock 

29. Ernst Bernhard 

■■ 15. Ernst Mai 

30. Anneliese Hamann 

i 


Der Kampf gegen die Wohnungsnot 
vom sozialen und hygienischen Standpunkt 

In eine- sehr eindrucksvollen Kundgebung, die der V.S.Ä. am 12. Mai 
im ehern. Herrenhause veranstaltete, wurde das furchtbare Wohnungs- 
elend mit seinen verderblichen Folgeerscheinungen behandelt. Die beiden 
Hauptreferate der Gen. Gruschka und Landgerichtsrat Ru Den, die 
' das Problem von verschiedenen Gesichtspunkten erörterten, fanden in 
der breiten O Öffentlichkeit viel Interesse und Beachtung. Wir bringen 
nachstehend die Referate und neben etlichen Diskussionsbemerkungen die 
Leitsätze des V.S.Ä., in denen die wesentlichen Maßnahmen zum Schutze 

der arbeitenden Massen in der Wohnungsfrage gefordert werden. 

D. Red. 

Stadtphysikus Gen. Dr. Theodor Gruschka - Aussig. 

„Wohnungsnot“ ist nicht, wie viele und vielleicht auch manche 
unter Ihnen glauben, das viel beklagte Fehlen der Wohnungen 
gegenüber der notwendigen Zahl; diese Erscheinung nennt man 
richtiger „W ohnungsr nangsl“. „Wohnungsnot ist auch nicht die 
uns allen bekannte schlechte Beschaffenheit der Wohnungen und 
ihre Ueberfüllung; diese Erscheinung heißt richtig „Wohnungs- 
elend. 44 - 

* „Wohnungsnot“ aber . sind alle furchtbaren gesundheitlichen, 
wirtschaftlichen und sittlichen Schäden, ' die ais roige von Woh- 

nnn/YCmonnrc! iiT-r» Oi/ nri^linCTCPi'Pr. QlTftr0TP.n. trÜllßr ' i 

****** « * -****«—— 



Der Kampf gege.. ü. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 9 


Verrohimg, sinnlose Verrichtung höchster Werte — das sind In- 
halte, die der Begriff ,.Wohnungsnot“ umschließt, und wir er- 
kennen, daß er an Furchtbarkeit dem Begriff „Hungersnot“ gleicht. 

Wohnungsnot ist die Folge von Wohnungsmangel und Woh- 
nungselend und jene wird bekämpft, indem man diese beiden be- 
seitigt Der Kampf gegen die Wohnungsnot erfordert also die Bei- 
stellung von Wohnungen mit den notwendigen Eigenschaften in t 
genügender Zahl oder prägnanter ausgedrückt: Sicherung des 
Wohnungsmininums für jedermann. Das „Wohnungsminimum“ 
oder „die notwendige Wohnung“ muß also vorerst genau bestimmt 
werden, indem die unerläßlichen qualitativen und quantitativen 
Wohnungseigentümlichkeiten erforscht werden. 

Die Wissenschaft lehrt die üneriäßiichkeit der direkten Be- 
sonnung der Wohnung, und die bequemste Zugänglichkeit des freien 
Sonnenscheins von der Wohnung aus, fordert also das Lichtbad bei 
der Wohnung. Das tägliche Lichtbad der Kinder ist die wirksamste 
Schutzmaßnahme gegen die englische Krankheit, die, wie die sich 
jetzt geradezu überstürzenden Forschungsergebnisse immer 
schlagender beweisen, eine Lichtmangelkrankheit ist. Mit jubeln- 
dem Herzen haben wir erst vor einigen Wochen die Berichte über 
die so erfolgreichen Forschungen des Göttinger Chemikers 
Windaus gelesen: 2 bis 4 Milligramm des bestrahlten Ergoste- 
rins sind imstande, die menschliche Rachitis zu heilen! Unser 
Jubel gilt aber weniger diesem Heilmittel — unsere Freude gilt 
mehr der Tatsache, daß wir durch diese triumphalen Entdeckungen 
gelernt haben, auf das Heilmittel zu verzichten; unser Grundsatz: 
muß fortan sein: Sonnenschein bei der Wohnung — und kein be- 
strahltes Ergosterin aus der Apotneke! Nicht allein wegen der 
Rachitisvorbeugung. Denn die Sonne verleiht dem Körper auch, 
gegen die meisten Infektionskrankheiten, besonders gegen die 
Tuberkulose, einen hohen Schutz. Bewiesen wird das durch thera- 
peutische Erfahrungen bei der chirurgischen Tuberkulose, die heute 
allgemein bekannt sind. Erklären allerdings können wir diese 
Beobachtungen nicht. Tatsache aber ist, daß die bestrahlte Haut 
ein Laboratorium ist, in welchem rätselhafte Stoffe von zauber- 
hafter Wirkung erzeugt werden. .-•/ 

Die Mmdestbeschaffenheit der Luft der Wohnung erfordert: 
Freisein von krankheitserzeugenden Ursachen und Fehlen der 
Krankheitsbegünstigung. Ersteres wird gewährleistet durch jene 
Trennung der Wohnenden, bei weicher die .ausgestreuten Krank- 
heitskeime des Hustenden nicht zwangsweise in den Atemstrom 
des anderen gelangen. Also: Jedem seih eigenes Rejttl. Alle 
Lehren über Hustendisziplin, müssen erfolglos, sein bei , einem Volke# 
bei welchem infolge der Kleinheit der üblichen Wohnung des 
Arbeiters das Zusammenschlafen zweier oder mehrerer Personen 
zu den allgemeinen Volksgewohnheiten ge"hört. '.Die neuesten 
Forschungen über die Verbreitung der Tuberkulöse, durch ange- 
irocknete ’ Hüsten tropfches — StäubclienihfektiÖn — erweitern den 




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I , 1 

10 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 


Kreis der als notwendig anzusehenden Eigenschaft^ de, 
am diejenige der Mehrräumigkeit. Hustende sind so unter- 
zubringen, daß nicht nur die ausgehusteten Tröpfchen, sondern auch 
'die niedergefallenen und zu Stäubchen vertrockneten Ausschei- 
dungen anderen nicht gefährlich werden. 

Krankheitsbegünstigend wirkt die Luft, wenn sie Warme- 
stauung und Ueberhitzung des Körpers verursacht. Gerade dieser 
Schaden ist zu erwarten in der Kleinwohnung des Großhauses, 1 
der im Sommer die Wärmespeicherung der Steinmassen, aer ge- 
ringe Entwärrrmngseffekt durch Wärmeabfluß in den Erdboden, die 
Stagnation der durch die enge Verbauung an der Bewegung be- 
hinderten Luft, die große Zahl der inneren Wärmequellen und die 
wasserdampfentwickelnden häuslichen Verrichtungen ein moia - 
risches Klima erzeugen. 


— . . i x ... /i o o t ir*Vrf" <tr*.hiitzenae Ki aite. 

Uie uuxi nai auu,, ~rhT~::L w" * Fr. 


Uie LUll nai d.UV.11, KUX-UOU — — ' T-x.. p_ 

die bewegte Luft ist ein Reiz von höchstem Wert. Diese Er 
fahrung von der „Abhärtung“ ist uralt; sie bekommt nur heute, wo 
unser therapeutisches Handeln von „Reiztheonen beherrscht 
wird, ihre neuartige Begründung. Die sich daraus ergeoenaen 
Notwendigkeiten der Wohnung lauten: Durchiuftbarkeit der Woh- 
nung und Ausstattung der Wohnung mit einem Luftbaa 


Aus der bisher durchgeführten Analyse der notwendigen 
Wohnungseigentümlichkeiten ergibt sich also die Mimmumforae- 
jedem sein eigenes Bett in der mehrrau mi- 


rrmcr • 


V T 1 - .. .1 rr ! M /»«••foririoll ö f 

w /cnnung in uaiivDuduw • 


Und nun messen wir an dieser erkannten Notwendigkeit den 
tatsächlichen Zustand; nicht allein den Zustand von heu. e, sonder 
auch denjenigen vor dem Kriege. Und gerade erst diese weiter- 
gehende Betrachtung ist fruchtbar. Unserer Bevölkerung wird 
stündlich weisgemacht, daß das ganze Wohnungsprobiem nur m 
der Frage liege, wie der durch den Krieg verursachte Ausfall an 
Wohnungsneubauten schnell wieder ersetzt werden *o™ite ^ 
so folgern irrende, Irreführende und Irregefuhrte, daß die Rettung 
eLzig darin liege, jene Hindernisse aus dem Wege zu raumen, 
‘welche die Rückkehr zu den „normalen Verhältnissen der Bau- 
wirtschaft“ erschweren, 


Betrachten wir die Wohnungen dieser „normalen Verhält- 
nisse“! Schon die erste erörterte Notwendigkeit — Besonnung, 
der Wohnung und Ausstattung der Wohnung mit einem sonnigen 
lönderspielnlatz - ist nur' für wenige Glückliche erfüllt gewesen 
Braucht man Beweise dafür? Sie stehen ja noch, die 
Zeugen für die Erfolge einer Wirtschaft, ueren treibender Motor 
nicht das Wohl aller, sondern der Gewinn einzelner ist /Ver es 
bisher nicht geschaut hat, der lerne zu sexxsn und denke - 
Durchschreiten der breiten Straßen an die engen Hofe, um die 
herum die Behausungen der arbeitenden Menschen gedrängt und 

getürmt sind. . 


. »V.- 


Der Kampf gege.i d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 11 

Niceforo (Anthropologie der besitzlosen Klassen) zählte in 
den armen Stadtteilen von Lausanne 52 Prozent, in den 
reichen 10 Prozent sonnenlose Wohnungen; wenn man bedenkt, 
daß ja in reichen Stadtteilen auch Arme, in armen auch Reiche 
wohnten und daß auch innerhalb der Stadtteile die Wohnungsgüte 
gewiß dem Besitz entsprach, so ist mit diesen Durchschnittszahlen 
wohl deutlich genug gezeigt, daß die Armen im Schatten wohnten. 
Und so entsprach auch in jener normaler. Zeit dem Lichtmangel in 
Arbeiterquar deren eine ' ungeheure Verbreitung der Lichtmangel- 
krankheit.- Levy fand in den- Jahren 1910,1911 in Berlin unter 
1000 zur Erstimpfung gebrachten Kindern 532 aus Wohnungen 
stammend, die nur aus Küche und Stube bestanden, iaavon waren 

14 frei von Rachitis, 

16 hatten Rachitis leichten Grades, 

173 Rachitis mittleren Grades, 

262 schwere Kacnitis, g 

47 sehr schwere Rachitis. 

(Bericht über den 3. Internationalen Kongreß für Säuglingsschutz.) 

Man vergegenwärtige sich nur die ernste Bedeutung der 
Rachitis (die nicht nur körperliche Verunstaltung verursacht, son- 
dern eine allgemeine Minderwertigkeit des Organismus ist und eine 
äußerst gefährliche Schutzlosigkeit gegenüber Infektionskrank- 
heiten schafft), um eine Ahnung von der Bedeutung des Wortes 
„Wohnungsnot“ zu bekommen. 

Treu benachbart der Rachitis haust die luberKuiose, aucn sie 
ist ein trauter Gast der Arbeiterwohnungcn. Enge des Beisammen- 
lebens vermittelt leicht Uebertragungen und Absperrung von Sonne 
und Luft macht den Körper hocliempfänglich — ideale Bedingungen 
für die Ausbreitung der Tuberkulose. 

, Hören wir nur, welche Schlaf Verhältnisse in Wohnungen 
Tuberkulöser — vor dem Kriege — beobachtet worden sind. 

In einer Bearbeitung von Wohnungserhebungen bei 250 Tuber- 
kulösen in Graz im J. 1909 berichtet Prof. Burkard (Zeitschr. 
f. soz. Med. Säuglingsfürs. und Krankenhauswesen, 4. 3d.): 

„Von 292 tuberkulös Befundenen schlafen 93, das ist fast ein 
Drittel, mit Angehörigen oder selbst mit Fremden zusammen, je 
zwei in einem oder je drei in zwei Betten. Fast zu i Hälfte 

warenhieranKinderbet eilig t und fasteinSieben- 

tel von diesen war selbst nachweisbar tuber- 
kulös erkrankt, drei überdies in hohem Grade suspekt. 
Ebenso wurden unter den erwachsenen Bettgenossen Tuber- 
kulöser vier als sicher krank eruiert. Aber auch das sind — . . . . 
- nur Minimalzahlen.“ (Die Sperrungen wie im Original.) • 

Und die Schlußbemerkungen seines Berichtes ieitet Burkard 
mit den Worten ein: 

So sehen also die Wohnstätten tuberkulöser Arbeiter aus; 
nicht' nur in Graz: im Durchschnitt sind die ArbeiterwohnverhäLt- 
nisse unserer Länder so ziemlich überall die gleichen, und noch alle 


12 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienisdien Standpunkt 

Erhebungen, die sich mit dieser Frage befaßt haben, stimmen darin 
überein: die gleichen schiechten.“ 

• 

Eine Erhebung über die Wohnverhältnisse Tuberkulöser in 
Hümmling, Bezirk Osnabrück im Jahre 1910 ergab: Von 148 Tuber- 
kulösen hatten 119, also 81,6 Prozent kein eigenes Bett; 100 Kranke 
schliefen mit 1, 17 mit 2 und 2 mit 3 Angehörigen, nur Zwei in 
einer einwandfreien Kammer! 

Ein so enges Beisammenhausen ist wohl auch nicht ohne Ein- 
fluß auf die Entwicklung des sexuellen Affektlebens und auf die 
seelische Gesundheit. Die heutigen Regierungen zeigen sich ja 
gerade in dieser Hinsicht sehr besorgt und sind mit Eifer dabei, die 
Jagend vor der uerührung mit Schmutz und Schund zu schützen. 
Ic -h bin hier Ausländer and Ihr Gast und deshalb sei es fern von mir, 
die Gesetze Ihres Landes zu kritisieren. Aber gestatten Sie mir, 
daß ich Ihnen über ein ähnliches Schmutz- und Schundgesetz, das 
bei un£ in der Tschechoslowakei vorbereitet wird, meine Meinung 
sage: Wenn es nicht als das Instrument zur Unterdrückung von 
politisch unliebsamer Literatur geplant ist, so muß es im günstig- 
sten Fälle als Produkt grenzenloser Weltfremdheit beurteilt werden. 
Wer offenen Auges das Leben des Volkes betrachtet, der muß ein 
anderes Schmutzgesetz als notwendig erkennen. Die ersten Para- 
graphen müßten lauten : 

§ 1: Kinder sollen nicht Zeugen des Geschlechtslebens ihrer Eltern sein; 
sie sollen nicht im Schlafraum der Eltern schlafen. 

§ 2: Kinder sind vor dem Zusammenschlafen mit Mietern zu bewahren. 
§ 3: Es^ ist deshalb Pflicht der Regierung, für den Bau der alljährlich 
notwendigen zahi von Famiiienwohnungen und von Ledigenheimen 
Sorge zu tragen.' 

Lin anderer Kummer der Regierungen, der Ihren wie der unse- 
ren, ist die geringe Geburtenzahl. Es wird sehr, heftig, darüber 
geklagt und es werden die strafgesetzlichen Bestimmungen, die die 
Frauen des Rechtes berauben, darüber zu entscheiden; ob sie ein 
befruchtetes Ei austragen wollen, mit einem Eifer verteidigt, daß 
man mit Sicherheit schließen kann: Hätten wir diese barbarischen 
Strafandrohungen nicht, wir bekämen sie jetzt beschert. Die Be- 
völkerungspolitik durch den Staatsanwait sieht darin so aus: 

»Das Kind wegen Wohsungsmangei . auf der Straße geboren. Preß-' 
2, 22. _ Okt. Hinter der Danubiusfabrik ist die kleine Kolonie für 
fj Arbeiterfamilien, ^die ohne Wohnung sind. Ein Schutzmann hält die 
v.r_nung auirecht. Jetzt erst ist mit dem Barackenbau begonnen worden, 
trotzdem der Winter vor der Türe steht. In einer großen verfallenen 
nundenutte naust die Familie Bednarek. Sie wurde auf die Straße ge- 
worfen, weil der Mann nicht imstande war. 200 Kronen monatlich zu be- 
zahlen, da er bloß 600 verdiente. Er bezog mit seiner Frau, die in' ge- 
segnetem Zustand ist, und seinen drei Kindern die Hundehütte, die er 
mitteis einiger Bretter zum Zimmer erweiterte. Seit vier Wochen lebt 
e F - a F rau kocht im rreissn. In diesem Unrat brachte sie vor 

einer woene ein Kind, zur >Velt und wäre beinahe zugrunde gegangen, 
ca weit und breit keine Hebamme zu finden war. Dennoch mußte sie 
schon am nächsten i ag arbeiten und cier Neugeborene liegt in- Fetzen ge- 
nüllt in der Hütte.“ (Prager TagbL, 24. .Okt. 1924.) 


Der Katflpf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 13 

Eine Hebamme war weit und breit nicht zu finden. Aber ein 
Schutzmann hielt tue Ordnung aufrecht und er wäre schnell in 
Aktion getreten, wenn die Frau es hätte rechtzeitig verhindern 
wollen, in der verfallenen Hundehütte gebären zu müssen. 

Aber man glaube nur ja nicht, daß erst der Krieg solche 
Tragödien der Wohnungsiosigkeit erzeugt hat. Schon vor dem 
Krieg gab es Einzelne und Familien, die kein Dach über dem Kopfe 
hatten. Schon vor dem Kriege mußte eine strenge Polizei dafür 
sorgen, daß Parkbänke nicht als Nachtlager und Bruckengewoibe 
nicht als Unterkunft benützt werden. Aber wichtiger als solche 
Einzelerscheinungen ist die Tatsache, daß der allgemeine Won- 
nungsstandard des Arbeiters tief unter dem W ohnungsminimum lag. 

In Berlin wurden im Jahre 1910 251 550 Einzimmerwohnungen 
mit 768 837 Bewohnern gezählt. Es gab Einzimmerwohnungen mit 
mehr als fünf und Zweizimmerwohnungen mit mehr als neun 

Bewohnern: , _ 

In Plauen M Prozent 

Zittau 

„ Freiburg 19,9 

Reichenbach 29 

Berlin 16 •• 

” Chariotteriourg 10.1 

;, Neukölln 19 >• ' 

„30 Prozent der gesamten Münchener Bevölkerung leben in Woh- 
nungen mit ein und zwei „Wohnräumen (Zimmer, Kammer, Küche), 
48 Prozent mit ein. höchste,* drei Wh«»» 

KÄl lin "'viertel die“' Münchner tat wemget als H 

Cr-viiofr-aiim im is Bezirk müssen sich rund 39 Prozent mit einem 
soTeringen ' lüftkubus begnügen. Ein Viertel aller Münchener Wohnungen 
TdlwchnungenH d. h. Bruchteile einer Famffienwohnung. Rund 
Io Prozent aller einräumigen und 49 Prozent aller zweiraumigen Woh- 
nungen sind derartige Teilwohnungen, und man kann sich ausmalen, wie 
sehr diese Misere in diesen kleinsten Wohnungen dadurch verschärft wird 
Rund 80 000 Menschen wohnen so in München. _ Dazu kommt joch daß 
in Bezirken wo die breiten Schichten wohnen, ein großer leil der won 
nun^en Schiafgänger zu beherbergen hat. Dies trifft zum Beispiel m lji. 
ünd^lö Bezirk bei rund einem Sechstel ailer Wohnungen zu. Am gi eilst n 
werden die Wohnungszustände vielleicht durch die _ Jatsache beleuchtet, 
u.n ru-H 17 000 Münchener unter DeuciiiTiäit&ci ieiuCu. vriui. ma-x vw». 
ofubÄ ® mSSt Erhebungen 1904/1907 in der Beilage zu den 
M. N. N. vom 7. 7. 1908, zitiert nach Eberstadt.; 

Und jenen, die uns dumm machen wollen, und als Rötung aus 
unserer Wohnungsnot die Erhöhung der Mietzinse als „Mittel zur 
Rückkehr zu normalen Verhältnissen und natürlichen Formen der 
Wohnungjs Wirtschaft“ empfehlen, sollte i mn ier wieder gesagt 
'werden, was E b e r s t a d t , der hochverdiente Berliner M chnungs- 
forscher in seinem „Handbuch des Wohnungswesens (Verlag 
Fischer, Jena) über die Erfolge dieser natürlichen Formen der 
Wirtschaft schreibt: 

*) Pfliigge, Qroßstadtwohnungen und Kleinstadtsiedlungen, Verlag 
Fischer, Jena. 


14 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hggienischen Standpunkt 

„Klagen über die Wohnungsnot bildeten in^ der^ Zeit^ vor dem Kriegs- 
ausbruch eine ständig wieder kein cüue Abteilung ir. uer. ..eric.nen ««er «s« 
Wohnungsmarkt. In den Abschnitten 1907 bis 1914 werden in geradezu 

drastischen Schilderungen aus ailen_ T ^ ile .r*, 4 . Deuts J :hl ^ [ l ?f^ s , 
des Wohnungsmangels gemeldet. Großstädte und Mittelstädte sind .1 
gleicher Weise vertreten. Es sind betrübende Urkunden, die sich rner 
Jahr für Jahr anhäufen. Die Einzelheiten, so ergreifend sie | ind -;^ ied ®^ 
zugeben, müssen wir uns schon mit Rücksicht auf den Umfang der Ar- 
beiten versagen. Die schlimmste Seite dieser Verhältnisse erb.iCKe ic.i 
übrigens nicht in den bedauerlichen Einzelerscheinungen — Unterbringung 
in städtisches Obdach, Abweisung kinderreicher Familien, willkürliche 
Kündigungen, Mietssteigerungen - sondern in dem ^meinen s t andi g 
unbefriedigenden Zustand dieses grundlegenden Gebietes unserer 
inneren und sozialen Entwicklung. 1 

Wenn wir heute unsere Regierungen anklagen, daß sie dieser 
furchtbaren Not unserer Zeit gegenüber untätig oder nur unge- 
nügend tätig gegenüberstehen, so ist der Vorwurf der Hartherzig- 
keit und Empfindungslosigkeit für das Leid des Volkes wohl be- 
rechtigt. Aber diese Eigenschaften sind ja gerade solcher Art, daß 
Vorwürfe und Anklagen wirkungslos bleiben. Deshalb darüber 
keine unnützen Worte! Aber umso kräftiger müssen wir es hinaus- 
schreien, daß unsere Regierungen durch ihre Untätigkeit gegenüber 
der Wohnungsnot auf einem Gebiete fehlen, auf welchem sie sich 
gerade sehr viel zugutehalten — auf dem Gebiete der Wirtscha.t. 

Es ist furchtbare Verschwendung, sträfliche Vernichtung der 
wertvollsten Güter, - wenn die Wohnungsnot fortbesteht, wenn durch 
Wohnungsmangel und Wohnungselend Pausende und Abertausende 
zugrundegehen, ihre Arbeitsfähigkeit einbüßen, dem Krüppeltum 
verfallen oder gesellschaftsfeindliche Handlungen begehen. Gerade 
heute, wo die „Rationalisierung“ Technik und Wirtschaft be- 
herrscht, ist es geboten zu fragen : Ist es rationell, gegen- 
über den unerläßlichen, unverkürzt aren Be- 
dingungen für die Existenz und Leistungs- 
fähigkeit des Menschen gleichgültig zu sein. 
Man mißt mit der Stoppuhr im Betriebe, ob der Sitzplatz eines 
Arbeiters um Millimeter verändert werden soll und sieht es als 
nebensächlich an, daß derselbe Arbeiter zu Hause in einem finste- 
ren Loch schwindsüchtig wird? Das ist die berühmte Rationali- 
sierung? 

Die erste Rationalisierungsmaßnahme muß es sein, sich um das 
Inventar an Menschen zu kümmern und das Minimum an den lur 
Bestand und Arbeitsfähigkeit notwendigen Bedingungen zu sichern. 
Was würden wir zu einem Ingenieur sagen, der die wertvollsten 
teuersten Maschinen ohne Schutzdach den vernichtenden atmos- 
phärischen Einflüssen preisgäbe? So handeln aber unsere verant- 
wortlichen Politiker, die vor lauter Wirtschaft die Wirtschaft nicht 
sehen. 

Tausende von Opfern fallen und Milliarden werden so vom 
Chaos verschlungen. Wer versucht, nur einen kleinen, überblick- 
baren Teil dieser .Massenvernichtung durch die Verweigerung des 
biologisch notwendigen Minimums zu schätzen, komm«, zu gigan- 


Der Ksrnpf gegen d. W ohnungsnoi vom sozialen u.’hugienischen Standpunkt 15 


tischen Summen. Freudenberg hat in der Zeitsc hrift Jfir 
Hygiene (Bd. 103) den „Versuch zur Erfassung der wirtschaftlichen 
Bedeutung der einzelnen Todesursachen“ veröffentlicht. Da der 
Verlust an Arbeitsmöglichkeit während des Lebens statistisch nicht 
erfaßt und die Nebenkosten der Krankheit, Behandlung, Pflege usw. 
nicht geschätzt werden können, beschränkt sich Freudenberg nur 
auf die Berechnung des Schadens infolge Vcriusts von Jahren, 
weiche der .Arbeit gewidmet sein könnten, durch frühen Tod. 
Freudenberg kommt so auf eine Schadenssumme von 10 598 200 000 
Mark, dem Wert der durch vorzeitigen Tod jährlich im Deutschen 
Reich vernichteten Menschenleben, Welche Möglichkeiten für eine 
rationelle Wirtschaftspolitik! Die Tuberkulose allein vernichtet all- 
jährlich Arbeitsjahre im Werte von 2331,9 Millionen Mark! Wel- 
cher volkswirtschaftliche Gewinn durch Sicherung des Wohnungs- 
minimums für jedermann! 

So hat sich mit dieser Erfahrung unsere Auffassung vom W esen 
der „Wohnungsnot“ vervollständigt. Halten Sie fest: Die Woh - 
nungsnot ist keine bloße Nachkriegserscheinung: Unter der j 

Wohnungsnot hat der besitzlose Mensch zu allen Zeiten kapitaiistH 
scher Wirtschaft gelitten! Das Wohnungselend ist seit jeher neben’ 
der viehischen Arbeitslast das hervorstechendste Merkmal des 
Proletarierlebens gewesen. 


Und da soll das ganze Um und Auf der Wohnungsfrage darin 
beruhen, den Weg zu der „durch keine Fessel behinderten freien 
Wohnungswirtschaft“ zurückzufinden, zu der Wohnungswirtschaft 
jener paradiesischen Zeit, als jeder dritte Säugling in der Familie 
des Arbeiters starb, fast jedes Arbeiterkind rachitisch war und die 
Tuberkulose in jedem Hause nistete? 


Nein, dorthin zurück darf der Weg nicht führen! Als Biologen 
lind Wissenschafter müssen wir rufen und dürfen nicht müde werden 
zu rufen: Die Sicherung des Wohnungsminimums kann nicht den 
Zufälligkeiten einer chaotischen Wirtschaft ^ überlassen bleiben. 
Wir fordern Anerkennung des allgemeinen Wohnrechts. ^ Die Er- . 
Stellung der notwendigen Wohnungen muß Aufgabe der öffentlichen ! 
Verwaltung sein. Nur die öffentliche Verwaltung kann langfristige 
Programme organisieren und die Grundlagen für den Bau von 
Volkswohnungen — billigen Grund, billiges Bauen und billiges 
Geld — schaffen. 


Wir, die wir hier versammelt sind, sind wohl alle beseelt von 
dem Streben, dem um Leben und Menschenwürde kämpfenden 
Arbeiter beizustehen. Wir haben unsere Aufgabe erkannt und 
werden ihr alle unsere Kräfte widmen. 


Die Ruhe der Stumpfen und Unbelehrbaren aber wollen wir 
mit dem Schrei stören, den der Dichter Karl Kraus dem Eürger 
zu/uf t « 

Daß im Dunkel die dort leben, 
so du selbst nur Sonne hast; 

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16 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 

daß für dich sic Lasten heben, , 

neben ihrer eignen Last; •' • • 

: daß du frei durch ihre Ketten, 

. Tag erlangst durch ihre Nacht: 

Was wird von der Schuld dich retten; 
daß du daran nicht gedacht! . 

Landgerichtsrat Qen. Rüben*) als zweiter Referent 
behandelte die soziale Seite des Wohnungsproblems und wandte 
sich mit aller Entschiedenheit gegen eine etwaige Rückkehr' zu 
den Vorkriegszuständen. Die Sachlage hat sich allein dadurch ver- 
ändert, daß nach der Inflation die Abwertung der Hypotheken auf 
25% des Goldwertes den größten Teil der Bodenreste in die öffent- 
liche Hand gelegt hat Auf diese Macht gestützt, sei es möglich,- 
eine soziale Tat, wie sie früher nie projektiert werden konnte, zu 
vollbringen. Wenn der Staat diese Werte festhalte, sei das Pro- 
blem durch Gerne. inwirtschaft zu lösen. Die Wohnung' 
müsse ein öffentlicher Dienst werden, wie etwa die Schule oder die 
Wasserversorgung. Der Hausbesitz dürfe sich nicht „in : freier 
"Wirtschaft“ auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Das Recht 
auf Wohnung ist in der Nachkriegszeit zum Leitsatz geworden,- 
trotzdem ist die Miete in den letzten drei Jahren auf das Fünf- 
fache gestiegen. Aber da Lohn und Einkommen der werktätigen 
| Massen im besten Falle gleichblieben, .sc wird die Differenz m den» 
Mietzins heute vom Munde abgespart. Die Propagierung der freien 
Wirtschaft unter dem Motto. „Los von der Wohnungszwangswirt- 
1 Schaft“ bedeute nichts anderes als das Streben einer kleinen kapi- 
talistischen Schicht, ihre Inflationsgewinne von 30 -40 Goldmil- 
liarden zu realisieren. Ein soziales Mietrecht müsse unsere Parole 
sein. Es sei eine Illusion, auf genossenschaftlichem Wege etwa die 
Wohnungsfrage lösen zu können. Das wird nur einigen wenigen 
Arbeitern in gehobener Stellung helfen,- die breite Masse aber wird, 
i solange die. kapitalistische Wirtschaft besteht, im Wohnungselend 
, verkommen. 

Gen. Dr. Paul Friedländer sprach über die Regelung der 
Wohnungsfrage in Wien. Es könne sich auch in Österreich nur 
um die Einleitung zu einer sozialen Wohnungsfrage handeln. Ob 
wohl der Mieterschutz in viel höherem Maße als sonst in Europa 
besteht, dürfe man nicht außer Acht lassen, daß die niedrigen 
Mieten in Wien den niedrigen Löhnen und Gehältern der Arbeiter 
und Angestellten entsprechen. Der Wohnungsbau ist in Wien von 
der Gemeinde übernommen. Es wird viel gebaut, aber dem Be- 
dürfnis entsprechend noch lange nicht genug. 

*) Durch eine längere Urlaubsreise ist Gen. Rüben leider verhindert, 
den zugesagten Beitrag zu liefern. Wir müssen uns deshalb mit einer 
Inhaltsangabe seines sehr beifällig aufgenoiumenen Referates begnügen. 

Die Red. 


Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 17 

Victor Noack (Bund Dtsch. Bodenreformer): 

Ais Bodenreformer will ich versuchen, die Wurzel der Woh- 
nungsnot bioßzulegen, die Wurzel, aus der ein ganzer mächtiger 
Baum von Elend erwachsen ist, der seine giitigen Früchte über das Volk 
hängt. Die Wurzel steckt natürlich im Boden. So lange wir Häuser 
nicht in Wolken bauen können, brauchen wir dazu den Boden und muß 
die Bau- und Wolmungswiftschaft mit der B o d e n Wirtschaft rechnen 
ist das Bodenrecht maßgeblich für Pacht-, Miets- und Kypothekenrecht 
und beeinflußt die Daseinsbedingungen aller, die nur ais Pächter, Mieter 
oder Hypothekenscftuldner auf dem Boden leben dürfen. 

Das herrschende Bodenrech: behandelt Boden wie Ware. Boden ist 
aber keine Ware; denn er ist nicht beliebig vermehrbar, ist nicht Ergebnis 
menschlicher Arbeit. Boden ist nur einmal vorhanden. Mithin ist un- 
beschränktes Eigentum an Boden Monopol, d. h. Menschen, die ein Stück 
Boden lebensnotwendig brauchen, weil sie darauf arbeiten. Handel und 
Gewerbe treiben und wohnen müssen, sind dem Grundbesitzer ausgelie- 
fer: — und wer braucht wohl Boden nicht? Wer aber gerade ein be- 
stimmtes Stück Boden zu seiner Existenz braucht, wer gerade auf 
diesem Grundstück — etwa infolge seiner besonderen Lage — bestens 
vorwärts zu kommen hofft, gerade in diesem Hause wohnen muß, der 
muß dem Grundstücksbesitzer für die Benutzung des Grundstückes oder 
eines Teiles desselben den Kauf-, Pacht- oder Mietspreis erlegen, den ex 
bei äußerster Anstrengung seiner Leistungsfähigkeit und Einschränkung 
seiner kulturellen Bedürfnisse aufzubringen vermag. Der Grundstücks- 
eigentümer kann die Konjunktur, die sich aus der erhöhten Nachfrage 
nach günstig gelegenem Boden ergibt, unbeschränkt zu seinem Vorteil 
ausnutzen. Er bezieht den durch äußere Umstände, durch das- bloße Vor- 
handensein einer Gesamtheit von Menschen und das ordnende Wesen 
ihrer Verwaltung - also ohne seine persönliche Arbeit — entstehenden 
Wertzuwachs ar uund und Boden. Daher die Bezeichnung unverdienter 
Wertzuwachs. 

Die Allventeinheit, die Masse des Volkes, erzeugt nicht nur diesen 
Wertzuwa das System zwingt sie auch, die durch ihre Angewiesenheit 
auf Grnv.l und Boden entstehende Wertsteigerung desselben als Kapital 
zu verzinsen. Das System zwingt das Volk, dem Grundbesitz Grund- 
rentesdienst zu leisten. Der Grundrentendienst des Volkes aber unter- 
er' .üidet sich nur der Ferm nach und kaum der wirtschaftlichen Wirkung^ 
.ach _vom mittelalterlichen Frondienst des gemeinen Mannes gegenüber" 
dem Feudalherrn. 

Die Mieter leiden am schwersten unter dem Grundrentendienst. 
Einen hohen Prozentsatz der Miete verzehrt die Verzinsung des unver- 
dienten Wertzuwachses. Ohne diesen Teil in der Miete, den der Grund- 
besitzer unveixüesterweise in seine Tasche steckt, hätte die übergroße 
Mehrzahl der Mieter nicht nötig, sich mit Wohnungsverhältnissen abzufin- 
den, die Gesundheit untergraben, Sittlichkeit verderben, Kultur -und Zivi- 
lisation herabdrücken, Ehen zerrütten, Frauen zu Abtreibungen nötigen, 
— Verhältnissen, die wir kurz und treffend als Mieter elend be- 
zeichnen. Das herrschende Boden recht also ist — neben den zeitlich 
besonderen Ursachen der- Kriegsfolgen d i e Ursache des Mieterelendes 
und wird dadurch zu einem schrecklichen U n recht am Volke. 

Ich gebe Ihnen zwei tatsächliche Beispiele, damit Sie mich nicht 
mißverstehen; Als Wertheim in der Leipziger Straße vor einigen Jahren 
anbauen mußte, hatte die Firma enorme Preise für den Erwerb der Mach- 
bargrundstücke zu bezahlen. Was jedoch der unmittelbare Nach- 
bar für ein kleines Grundstück von ganzen 313 qm forderte, war selbst 
gegenüber den hohen Forderungen der übrigen Grundstücksbesitzer so 
ungeheuerlich, daß Wertheim vorzog, den Erweiterungsbau jenseits dieses 
kleinen Grundstückes fortzuführen. So genoß man eine Zeitlang prak- 
tischen Anschauungsunterricht über die produktionsfeindliche, entwick- 



18 Der Kampf gegen d,Wo fcnungsnot.'vom sozialen u. hggienisdfien Standpunkt 

lunghemmende Folge der Bodenspekulation, indem man das häßliche, 
handtuchbreite, alte Mietshaus zwischen den beiden mächtigen, architek- 
tonisch prachtvollen Flügeln des Warenhauses eingekeilt sah. Nachdem 
dieser Fremdkörper in dem Betriebsorganismus, der einige Tausende Men- 
schen zu gängeln hat, unerträglich geworden war, mußte die Firma doch 
den vom Eigentümer des kleinen Grundstückes geforderten Preis erlegen. 
Nun diese 313 qm Grundfläche kosteten VA Millionen Goldmark, d. h. 
jeder Quadratmeter kostet 5000 M. 

Fragen Sie sich nunmehr selbst: Ist das Arbeitslohn? Ist das Ka- 
pitalzins? • 

Ein zweites Beispiel: Der Bauer Kilian erwarb einen an der Grenze 
Berlins gelegenen Kartoffelacker für 2700 Taler. Jahrelang hat. der Bauer 
den Acker treu und brav bestellt. Inzwischen sah er die Mietskaserne 
näher und näher rücken. Bauunternehmer machten ihm Kaufangebote. 
Aber' hinter dem stumpfen Lächeln, womit er Kaufangebote immer wieder 
ablehnte, stand der Gedanke: Das kommt noch besser. Es kam auch 
besser. Er verkaufte den Acker, den er vor 10 Jahren für 2700 Taler er- 
worben hatte, für 6 Millionen Goldmark. 

Wieder fragen wir uns: Ist das Arbeitslohn? Der Bauer hat seinen 
Acker bearbeitet, seine Kartoffeln hineingesteckt. Er hat, wie jeder an- 
dere Bauer, geerntet und die Ernte verkauft. Damit machte sich seiner 
Hände Arbeit in üblicher Weise bezahlt. Er hat sonst während der izehn 
Jahre keine produktive Arbeit an dem Acker geleistet, wofür er einen 
Lohn und nun sogar einen solchen von 6 Millionen Mark verdient hätte. 
Also Lohn sind sie nicht, diese 6 Millionen Goldmark — es war ja vor 
dem Kriege — , können aber auch nicht als Zins für das angelegte Kapital 
von 2700 Talern gerechnet werden. Sie sind unverdienter Wert- 
zuwachs an Grund und Boden, nackte Grundrente, erzeugt 
durch das Wirken der Allgemeinheit, durch das Bedürfnis ^arbeitsamer 
Menschen, auf diesem Grundstück zu wohnen, Handel und Gewerbe zu 

betreiben. • .... 

Das Tragischste ist, daß die den Wertzuwachs bildende Masse Volk 
nicht nur nichts davon abkriegt, sondern daß sie das dem einzelnen 
Grundbesitzer unverdient zuwachsende Kapital auch noch verzinsen muß. 

Der Sandboden Berlins kostete 1914 rd. 6 Goldmilliarden. Eine Grund- 
rente von nur 4% ergibt jährlich 240 Goldmillionen. Die werktätige Be- 
. völ'kerung Berlins mußte also an jedem Arbeitstage 800 000 M. Grundrente 

Der R.-v1f>nwert des Deutschen Reichs wurde 1913-14 von Helfferich 

. ,.C ITA 


. Das tragische Schicksal, das unser m Voik durch das falsche Boden- 
recht aufgezwungen ist, erfüllt sich schließlich dadurch, daß die Grund- 
eigentümer die Verzinsung des unverdienten Wertzuwachs-Kapitals vom 
Volke erpressen, indem sie es zwingen, das unheilvolle, das verhängnis- 
volle Wohnsysiem der Mietskaserne zu ertragen. Je enger die Bebauung, 
um so höher die Grundrente. Daher die Feindschaft des spekulativen 
Bodenkapitals gegen das Bestreben moderner Städtebauer, die Städte au, 
zulockern, d. h. den Häuserbau durch Grüngürtel durch Freiflächenzonen, 
durch Keimstättengartengebiete im Sinne des Reichsheimstättengesetzes, 
im Sinne der Verordnung des Preußischen Ministers für Volkswohlfahrt 
vom 12. September 1924. im Sinne des preußischen Stadtebaugesetz- 
pntn.-nrf«; 7 .U unterbrechen. Daher auch die Feindschaft der Grundeigen- 


c* O T* ^ _ _ 

bringen. 




Der Kampf geye:r[d. Wohnu ngsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 19 

schleppten, von* Bund Deutscher Bodenreformen vom Ständigen Beirat 
für fieimstättenwesen beim Reichsarbeitsministerium und vom Aktions- 
komitee geforderten Rcichsbodenreformgesetzes. — 

Es ist ja sehr einfach und leicht zu begreifen: Der durch die Terrain- 
spekulatiou verteuerte Grund und Boden tragt wirtschaftlich das Einfami- 
lienhaus nicht. Die einmalige Ausnutzung der Grundfläche beim 
Flachhause erbringt nicht di: vom Bodenspekulanten erwartete 

Grundrente. Dazu ist erforderlich, daß die Grundfläche mehrmals aus- 
genützt, d. h. daß die Grundfläche im Etagenbau v e r v i e 1 fältigt 
werde. So viele Etagen beim Hausbau übereiuandcrgeschichtet werden, 
so viele Mal wird die Grundfläche ausgenützt und dir Grundrente mul- 
tipliziert. So kommen wir zu den Mammutmietskasenien, die die Grund- 
besitzer am liebsten zum Turmhaus steigern. Je höher die Bebauung, 
desto größer die Ausnutzungsmöglichkeit der Grundfläche, desto höher 
die Grundrente, desto höher der Bodenpreis. Der Boden preis ist maß- 
geblich für den Mietspreis und die' Mietspreismöglichkeit bestimmt wie- 
derum den «Bodenpreis. Sie sehen, eine Schlange, die sich in den Schwanz 
beißt — und die ihren mächtigen Ririgelieib um das wirklich wert- 
schaffende Volk preßt. Der Spekulationsgewinn, der unverdiente .Wert- 
zuwachs und seine Verzinsung lastet in der Miete auf den Mietern. VVoh- 
nungselend ist die Folge des durch die Spekulation überteuerten Bodens 
und der dadurch, mitbedingten Mietüberteuerung. Mithin bedeutet Be- 
kämpfung der Bodenspekulation auch Bekämpfung der Wohnungsnot und 
ihrer Folgen. Mittel gegen Bodenspekulation sind Wegsteuerung 
des unverdienten Wertzuwachses und Bauordnungen, 
die das gemeine Wohl zum Ziele haben. Aber die Wurzel des Uebels ist 
nur zu erfassen mit einer Aufhebung des Warenrechts an Grund und 
Boden, mit der Reform des Bodenrechts. 

Reichstagsabgeordneter Gen. Emil Hölle in 

unterstreicht nachdrücklich die unbedingte soziale, hygienische und 
kulturelle Notwendigkeit, die vom Hauptredner aufgestellten Woh- 
nungsgrundsätze zu verwirklichen. Allein wie himmelweit sind 
wir in der rauhen deutschen Wirklichkeit davon entfernt! Neun 
Jahre nach Beendigung des Weltkrieges fehlen bei uns mindestens 
noch e ine Mil li on W ohnunge n. Und diese entsetzliche 
Wohnungsnot wächst weiter von Jahr zü Jahr. Nicht einmal die 
baufälligen und direkt gesundheitszerstörenden Wohnungen wer- 
den ausgeschaltet. Mit der Wohnungsnot, die zu einer Ueber- 
völkerung des an sich schon so unzulänglichen Wohnraumes der 
unbemittelten Volksschichten führt, wächst automatisch das Wqh- 
nungselend mit seinen furchtbaren Auswirkungen in gesundheiU 
licher und sittlicher Hinsicht. Obwohl der Bürgerblock durch die 
unsoziale Hauszinssteuer der Mieterschaft seit Jahren Milliarden- 
beträge abpreßt, — zurzeit handelt es sich bereits um einen Jahres- 
betrag von 2,4 Milliarden — verwendet er diese Riesensummen 
nicht zur Behebung der Wohnungsnot, sondern vorwiegend zu 
Steuererleichterungen für den Besitz und zu Sondergeschenken 
an die Hauskapitalisten. Gleichzeitig bekämpft er das Wohnrecht 
der Massen von zwei Richtungen. Einmal durch eine systema- 
tische, durch keine sachlichen Notwendigkeiten der Wohnwiri- 
schaft bedingte Steigerung der Altwohnraum mieten 
bis zur Höhe der sog. Rentabilitätstniete (etwa das 2,5 — 5fache der 












20 Der Kampf gegen d.;Wohnungsnolfvom sozialen u. hggieniscfien Standpunkt 

Friedensmiete.) Diese unerschwinglichen Mieten sollen die minder- 
bemittelten Familien zwingen, noch enger zusammenzurücken als 
bisher, um so die Wohnungsnachfrage künstlich zu verringern. 
Zum andern durch einen nicht minder systematischen Abbau 
des Mieterschutzes, um die Mieterschaft sturmreif zu 
machen für die Wiederkehr der ungehemmten xMietwucherfreiheit 
und Willkürherrschaft des Hauskapitals; Die Folge dieser plan- 
mäßigen Angriffe auf das Wohnrecht der Massen sind bekannt: 
Massenexmissionen wegen des Unvermögens, die hohen Mieten 
zu zahlen, Unterbringung der wohnungsberaubten Mietermassen 
in Turnhallen, Schuppen, ausrangierten Eisenbahnwaggons und 
Obdachlosenasylen, die jeder Beschreibung spotten, und u. a. der 
himmelschreienden Einrichtung der „Sprungställe“ in Hannover. 
Sn macht die Entwicklung jeyäen Versuch zu einer sozialen Lösung 
der Wohnungsfrage immer mehr zu einer Nachfrage zwischen 
Besitz und Nichtbesitz. Dies haben wir unsererseits seit Jahren 
erkannt und daraus die entsprechenden Folgerungen gezogen. Wir 
arbeiten unverdrossen an der Schaffung einer einheitlichen, 
geschlossenen Mie.terfr.ont, die das erdrückende 
Schwer- und Uebergewicnt ihrer Massemaahl für die Durchsetzung 
ihrer Lebensinteressen rücksichtslos einsetzen muß. Die sach- 
lichen Möglichkeiten dazu sind vorhanden. Erstens sind 80 Prozent 


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und liicnr uer ueuisciicn dcvuiaci un& 


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Massenenteignung der Sparer und Hypothekengläubiger durch 
Inflation und Aufwertungsrnanöver die Möglichkeit, die durch die 
ständigen Mietssteigerungen und Mieterschutzverkümmerungen 
zwangsläufig eintretenden Miiliardengewinne des Hauskapitals 
zur Finanzierung eines großzügigen Wohnungsbauprogramms ein- 
zufangen. Bei gleichwertiger Begrenzung der Mieten 
auf die Höhe der Friedensmiete und Ausgestaltung des 
heutigen Mieterschutzes • zu einem wirklichen, sozialen 
Mi et - und Wohnrecht. Drittens bietet die Verfassung die 
formelle Möglichkeit, daß die Mietermassen sich unmittelbar ge- 
setzgeberisch betätigen und durch Gesetz ihren Willen auf Woh- 
nungsbeschaffung und Wohnrechtsicherung durchsetzen. Allen 
Widerständen zum Trotz muß im Interesse der sozialistischen Zu- 
kunft die Mietereinheitskampfesfront aufgerichtet werden. 


Genossin A. Bieber: 

Schon vor dem Kriege war die in Proletariervierteln be- 
stehende Wohnungsnot eine brennende Frage. Ich erinnere an 
die Sombartschen Veröffentlichungen in der „Gesellschaft“ und an 
die schon erwähnte Wohnungs-Enquete von Albert Kohn, Vor- 
stand der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin. Ich erwähne sie 
noch einmal, des pikanten Beigeschmackes wegen, den ihre Ge- 
schichte hinter lasser, hat: 

Die Hausbesitzervereine nämlich haben es seinerzeit zu er- 
reichen versucht — und vorübergehend auch erreicht, — < daß von 


Dar Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 2f 

ministerieller Seite die Fortführung der Enquöte verboten wurde 
mi- der Begründung, daß dazu Gelder der Versicherten und Be- 
amten benutzt und damit ihrem ursprünglichen und eigentlichen. 
Zweck entzogen ^würden. Die Gelder der Krankenkassen seien 
dazu nicht da. Es gab damals noch strenge baupolizeiliche Vor- 
schriften, und der Begriff „polizeiwidrige Wohnungsverhältnisse 1 ' 
hatte — im Gegensatz zu heute! — noch Geltung. Die Herren, 
Hausbesitzer empfanden die Umhüllungen der Wohnungsenquete 
über die furchtbaren Verhältnisse als Denunziation, sie hatten: in 
der Tat polizeiliche Scherereien und Maßnahmen zu fürchten. Ihr 
eigenartiges Interesse an der zweckentsprechenden Verwaltung 
der Krankenkassenfinanzen läßt sich also sehr einfach erklären 
als Schutzmaßnahme für die weitere ungehinderte lukrative,, wenn 
auch teilweise höchst ungesetzliche Einnahmequelle. 


* n T J ener ^ e it entstanden nach Ansicht der Hausbesitzer herr- 
liche Proietarierwohnungen, nämlich „Zimmer mit Kochgelegen- 
neu , die heute noch sattsam bekannten und berüchtigten Koch- 
stuben. Sie ^entstanden wegen ihrer außerordentlichen RentabiB- 
tät für die Hausbesitzer; denn die Praxis hatte gezeigt, daß das 
System der Zerschlagung und zimmerweisen Vermietung der Woh- 
nungen wobei die Küche die begehrteste und bestbezahlte Woh- 
nung darstellte - sich glanzend rentierte, daß es gar keine bessere 
Ausbeutung der Wohnungen und selbstverständlich dadurch auch 
ihrer Inhaber gab. Die gleich große Wohnung in der verkom- 
mensten Proleiariergegend brachte in Berlin und auch in anderen 
Großstädten ^ie etwa Breslau trotz des Mangels an allem Kom- 
iOil, trotz der unerhörten Klosettverhältnisse (gewöhnlich Senk- 
gruben auf dem Hofe), trotz der Baufälligkeit der Treppen, des 
Mangels an Straßenbeleuchtung mehr Mieteinnahmen als eine ele- 
gante, gesunde, komfortable Wohnung in eleganter Gegend. Auf- 
wendungen für Reparaturen gab es in diesen armseligen und un- 
gesunden Wohnungen nicht, ebensowenig Mietausfälle, denn ein 
säumiger Zahler flog im Handumdrehen auf die Straße, der Nach- 
folger für ein noch so kümmerliches Unterkommen rückte sofort 
nach. 


Wenn vorhin ein Appell an die Aerzte gerichtet wurde, sich 
im Kampf gegen das Wohnungselend an die Spitze zu stellen so 
muß festgestellt werden, daß heuie — genau so wie vor dem 
Kriege — die_ große Mehrzahl Aerzte sich ebensowenig frei ge- 
macht hat von kapitalistischer Denkweise wie andere Staats- 
bürgergruppeu. Der Mensch wird wie jedes Wirtschaftsproblem 
nach Anlagekapital, Rentabilität und Zinsendienst berechnet 
Wenn man heute versucht, großzügige Bauten auszuführen, z. B 
im Schöneberger Südgelände mit amerikani- 
~ s m K apitai 7000 Wohnungen im Jahre zu bauen, 
so sind für den Herrn Minister für Volkswohlfahrt und Städtebau 
nicht die nygienischen Gesichtspunkte und nicht die Bedürfnisfrage 


4 



22 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 

maßgebend, sondern die Tatsache, daß infolge der Verhandlungen 
mit den Amerikanern allein die Baustoffpreise in Berlin und 
darüber hinaus eine steigende Tendenz aufweisen!! Vom Wucher- 
paragraphen, von der Möglichkeit, durch Zulassung der Kon- 
kurrenz diese Angelegenheit in Ordnung zu bringen, ist keine ent- 
fernte Rede. In den Mitteilungen des amtlichen preußischen 
Pressedienstes und in der Mitteilung des Oberbürgermeisters Bölt, 
auf die sich der Herr Wohlfahrtsminister bezieht, befindet sich 
ein sehr ominöses Wort, nämlich das Wort, daß „das sogenannte 
Südgelände zur Zeit unter keinen Umständen bebaut werden 
dürfe.“ Dieses Wort „zur Zeit“ berechtigt zu einem dicken Frage- 
zeichen. Heißt das, es wird eine .neue Konjunktur oder aas An- 
gebot anderer Interessentengruppen abgewartet? Ich wage nicht 
daran zu glauben, daß unsere hygienische Forderung, ausreichende 
Erholungsflächen freizulassen von der Bebauung, ausschlaggebend 
ist. Denn in Berliner Bebauungsplänen sind noch nie und 
nirgendwo andere als kapitalistische Interessen 
maßgebend gewesen. 

Der zweite Referent hat. sogar gewarnt, der Not durch Ge- 
nossenschaftsbauten abhelfen zu wollen. Ja, wie will er denn ab- 
helfen ? Wann die Möglichkeit gegeben sein wird, bei uns mit 
den Methoden zu arbeiten, an die er denkt, wird_ er selbst uns 
nicht sagen können. Infolgedessen geht ja sein Rat dahin, gar 
nichts zu tun, und mir will doch scheinen, als ob Versuche, nach 
Kräften und zweckmäßig zu bauen, immerhin einigen Nutzen 
bringen könnten. Wieder eine Parallele mit der Vorkriegszeit, 
verschiedene Baugenossenschaften wie z. B. die Genossenschaft 
„Produktion“ in Hamburg (sozialdemokratisch), oder in Berlin 
(liberal-sozial) haben durch den Bau gesunder und komfortabler 
Kleinwohnungen mit Zentralheizung, Warmwasserversorgung, 
Badezimmer und billiger Miete außerordentlich Wertvolles im 
Kampf gegen die Wohnungsnot geleistet. Warum sollte das in 
weit verstärktem Ausmaße heute nicht getan werden? 

Es ist noch ein Punkt erwähnenswert, der nicht zu unter- 
schätzen ist: die Erziehung der Proletarier zu zweckentsprechen- 
der Benutzung und Instandhaltung einer wirklich zweckent- 
sprechenden Wohnung. Da bleibt noch viel zu tun. Der voll- 
kommene Ausschluß des Wohnzimmers vom täglichen Gebrauch, 
seine ausschließliche Benutzung für Einsegnungsfeier oder Kind- 
tauf e und dadurch Zusammenpferchung der ganzen Familie in 
Kammer oder Küche sind in den proletarischen Sitten tief ver- 
wurzelt und müssen energisch bekämpft werden. 

Wenn die Verhältnisse jetzt so unerträglich geworden sind, 
daß selbst in unserem heutigen kapitalistischen Staatswesen an 
gemeinwirtschaftliche Bauten ohne offenen Widerstand heran- 
gegangen werden kann, so ist es gleichgültig, ob diese uemein- 
schaft durch Gründung von Siedituigsgesellschaften, an denen 


Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischer. Standpunkt 25 

Staat oder Staat beteiligt sind, verschleiert wird oder nicht. Die 
Hauptsache ist, daß endlich etwas geschieht und gebaut wird und 
die Zwirnsfaden, über die der Herr Minister stolpern zu müssen 

rissen 5 werden^ 6 ” Und krdftigen Willen Züm Zweck zer- 


Leitsätze des V.S.Ä. zum Wohnungsproblem. 

. »Verein Sozialistischer Ärzte“, der am i2 Mai 1Q27 in 

Wnhnun^^hf 11 Kündgebung im ehemaligen Herrenhause zu dem 
cx’n un Ssproolem vom sozialen und hygienischen Standpunkt 
Steüung nahm, stellt fest, daß die Gesundheit der breitesten 

Denn 'hp- d ? arbeite “ den Bevölkerung aufs höchste gefährdet ist. 
Denn bei der ungeheueren Schädigung der Volksgesundheit — 
hervorgeruien durch Arbeitslosigkeit einerseits, übermäßig lange 

1 ^fnW SZ ? t b w hungerlohnen andererseits — ist dem Proletarier 
infolge der Wohnungsnot auch die letzte Möglichkeit be- 
nommen, seine durch Unterernährung und Überarbeitung bedrohte 
kcrpe^iche und seelische Gesundheit zu bewahren. Denn er ist 
genötigt, die ihm noch verbleibende Freizeit in ungesunden, 
^eriuliten Woftnungenzu verbringen, die ihm nicht ein- 
? ll ^ as toemsche Existenzminimum an Licht und Luft gewähren, 
-pjgai £er S c hl a f bleibt dem Arbeiter als natürlichstes Er- 
^.lungs.xtiitei aucu uocii versagt, wenn — wie so oft — er infolge 
der Raumnot auf ein eigenes Bett verzichten muß. Jede wirksame 
Bekämpfung d er großen Volkskrankheiten, zumal der 
- uoerkulose, der Geschlechtskrankheiten, des 
Alkekohsmus und auch vieler Neurosen, ist illusorisch 
solange man nicht das furchtbare Wohnungselend zu beseitigen 
vermag. 


Die sozialistischen Ärzte fordern darum im Einklang mit den 
sozialistischen Parteien und Gewerkschaften: 

1. Wohnungsenquete und Wohnungsinspektion. — Die ver- 
dienstvollen früheren Enqueten des verstorbenen Albert Kohn 
müssen von den deutschen Stadtverwaltungen unter Kontrolle der 
noileiuenaen Arbeiterschaft auf breiter Basis fortgeführt werden 
um zuverlässiges Material über das Wohnungseiend in Deutsch- 
land zu erhalten. 

2. Die Hauptamgabe zur Lösung der Wohnungsfrage fällt den 
j I f me ü nd 5P za ’ zuma l < ^ as Private Kapital mit seiner mangel- 
haften Dautätigkeit nicht imstande ist, den dringendsten Bedürf- 
nissen Rechnung zu tragen. — Ihnen muß das Recht zugestanden 
werden, städtisches Bauland und Mietshäuser im Stadtbezirk zu 
•enteignen, um die rationelle Errichtung städtischer Häuser in 
■eigener Regie der Stadtverwaltung durchzuführen. 

Die Bauausführung ist so zu gestalten, daß jedem Arbeiter ein 
eigenes ^Bett^ in mehrräumiger Wohnung in Gartennähe geboten 
wird. Zur Vervollkommnung und Vereinfachung der Hauswirt- 

4 * 








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24 


über Unfall- und Kriegsneurosen 

Zentralisation des Küchenbetriebes angestrebt 


/ schaft soll eine 
werden. 

3. Kampf gegen den Baustoffwucher. Die Preise der Bau- 
materialien, vor allem in der Ziegelindustrie, die eine Produktion im' 

! eigenen Lande ist, müssen gesenkt werden. 

4. Die arbeitende Bevölkerung darf nicht durch Erhöhung der 
I Mieten belastet werden, sondern die Mieten sind herabzusetzen, za- 
| mal die Löhne und das Einkommen der Arbeiter, Angestellten • und 

; Beamten weiter auf dem jetzigen Tiefstand gehalten werden. 

1 Der „Verein Sozialistischer Ärzte“ ist bereit, aktiv an der Be- 
1 kämpfung der Wohnungsnot mitzuarbeiten, und stellt seine Mit- 
gliedschaft den Kommunen und den sozialistischen Parteien, speziell 
für die Arbeiten der Wohnungsenquete, zur Verfügung. 


Über Unfall- und Kriegsneurosen 

Die gegenwärtige ärztliche und rechtliche Lage. 

Vortrag vom 22. Februar 1927 im V. S. Ä. 
von Dr. med. Max Levy-Suhl (Berlin-Wilm.)* 

Die Berechtigung', an dieser Stelle über die Kriegs- und Unfall— 
neurosen zu sprechen, schien mir darin gegeben, daß es sich dabei 
nicht nur um wichtige medizinische und juristische Fragen handelt 
sondern um ein Problem, das in die ganze soziale Struktur unserer 
Zeit verstrickt und in allgemeineren menschlich- seelischen Eigen- 
arten begründet ist. Die Tatsache solcher soziologischen Zu- 
sammenhänge ist seit langem von nationalökonomischer wie ärzt- 
licher Seite — in ungünstigem wie günstigem Sinne — hervor- 
gehoben worden, ich nenne ärztlicherseits H e 1 1 p a c h und E 1 i as- 
b e r g und aus unsern Kreisen hat Simme 1*) erst kürzlich hier 
auf die generelle Beziehung neurotischer Erscheinungen zu den 
durch die herrschende Gesellschaftsordnung bedingten Versagungen: 
und Enttäuschungen hingewiesen, soweit das Proletariat in Frage: 



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•..Tg*;, 






steht. 

Wenn ich mich heute vorwiegend an die U n f a 1 1 neuros e- 
halte, und die Kriegsneurose nur als Parallele anführe, so geschieht 
es, weil für die Unfallneurose eine ganz neue grundsätzliche- 
Entscheidung der höchsten Spruchstelle des Reichsversicherungs- 
amts vorliegt, die in gleichem Sinn für die Kriegsneurose seitens 
des Reichsversorgungsgerichts bestimmt zu erwarten, aber soviel, 
ich weiß, noch nicht verkündet ist. Ferner haben: ja die heutigen 
Kriegsneurosen keinen Zusammenhang mehr mit den Gefahren und 
Strapazen der Front, sondern es handelt sich heute auch bei ihnen 
wie beim Zivilunfall rechtlich immer nur um die Frage, ob die 
gegenwärtigen Beschwerden ursächlich von der JKriegsdienst- 
beschädigung abhänger und inwieweit dadurch die Erwerbsfähig-, 
keit beschränkt ist. 



•) Siehe Ernst Simmel: Grundsätzliches zum. Kampfe gegen dem 
§ 218. („Soz. Arzt“, I. Jahrg. Nr. 4.) 


über Unfall- und Kriegsneurosen 


25 


Zum heutigen Begriff der U'nfallneurose gehört zunächst daß 
ihre Erscheinungen, so seltsam und eindrucksvoll sie auch seien, 
11 i.c h t aus der erlittenen Verletzung selbst, nicht aus organischen 
Prozessen entstanden sind, sondern sich ausschließlich ais sog. 
psychogener Natur erweisen. Alle subjektiven Symptome, die 
«ns von Neurasthenie, Hysterie, Neurosen' bekannt sind und alle 
'dort möglichen objektiven Störungen des vegetativen und Gefäß- 
systems könne:: sich beim ünfallneurotiker zeigen, werden von ihm 
-als Krankheit erlebt und gelten in seiner Vorstellung als Folgen 
des erlittenen Unfalls. 


Es braucht kaum gesagt zu werden, daß wir grundsätzlich die, 
wie überall verkommenden Unehrlichen außer acht lassen, die 
Symptome Vortäuschen oder betrügerisch einen Zusammenhang mit 
Unfall behaupten. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß sich 
unwillentliche Umbiegungen und Selbsttäuschungen in der 
Erinnerung bei jedem Menschen, sei es als Zeuge, als Forscher oder 
Staatsmann, einschleichen können, wenn persönliche Interessen im 
iilintergrund stehen. Das Interesse des Unfallverletzten aber wie sei- 
ner Familie ist naturgemäß von Anfang an darauf gerichtet, daß ihm 
die gesetzliche Entschädigung für eine auf dem Kampffeld der Lohn- 
-arbeit — der Fronarbeit, wie es viele empfinden — erlittene Er- 


werbsbeschränkung in vollem Maße zuteil wird, genau 

- i r\ • , ... ^ . w. 7 


XOWXWJ. 


wie dcuU«. 


n Dienst für die Gemeinschaft Geschädigten. ' Vergessen 
wir dabei nicht die Rigorosität, mit der überall, wo Staat, Be- 
aörden, Gesellschaften’ für einen Schaden auizukommen haben, sei 
es Feuer-, Hagel-, Kriegs- oder Depossedierungsschäden, Bürger 
und Bauern, Edelleute und Fürsten, mit allen Mitteln das höchste 
herauszuholen versuchen. 


Fs ist psychologisch verständlich, daß gerade die geringe Be- 
achtung und die • — sagen wir es offen — übliche Geringschätzung 
des subjektiven Leidenszustands der Rentensuchenden bei der bis- 
herigen äi ztLchen Begutachtung den einfachen Mann zu immer 
stärkerer Betonung seiner Beschwerden oft geradezu hintreibt. Um 
-aber die so leicht gegen Unfallverletzte oder gar gegen die Arbeiter- 
-schaft allgemein ausgedehnten Vorwürfe aufs rechte Maß zurück- 
zuführen, nämlich ihrer Begehrlichkeit, Rentensucht, Ausbeutung 
der sozialen Gesetze und Verweichlichung — bezeichnet doch in 
neuester Publikation K. Weiler vom Hauptversorcungsamt 
-München ganz offen die Kriegs- und UnfaHneurotiker in Bausch 
und Bogen als ^Schmarotzer unserer Volkswirtschaft“, als „hyste- 
Hsch-psychopathische Betrüger“, denen auch der Zusammenbruch 
‘des Kriegs nicht zum geringsten zu verdanken sei — ; ich wieder- 
hole: um zunächst ein allgemeines objektives Bild von dem 
Verhalten des versicherten Arbeiters bei Berufsunfällen zu erhalten, 
stelle ich einige statistische Tatsachen aus dem Jahre 1924 nach 
•den Amtlichen Nachrichten an die Spitze. 

Bei rund 11 Millionen Pflichtversicherten wurden in den ge- 
werblichen und landwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland 


26 


über Unfall- und Kriegsneurosen 


80 820 neue Unfallverletzte gemeldet. Davon 

7152 mit tödlichem Ausgang, das sind etwa 9 Prozent, 

1007 mit voller Erwerbsunfähigkeit, die übrigen mit teilweiser. Da-, 
bei ist zu bemerken, daß zahlreiche kleine Unfälle täglich in den 
Betrieben Vorkommen, die von den Betroffenen der Meldung nicht 
der Mühe wert gehalten werden, geschweige, daß bei ihnen sogleich 
„Rentenbegehrungsvorstellungen“ oder, wie man gesagt hat, die 
„Profitgier“ geweckt wird. 

Wie groß ist nun der Anteil derjenigen, die auf Grund des 
Unfallereignisses neurotisch erkranken oder *^t „Renten- 
sucht“ reagieren? Wieviel von jenen 80 800 oder, da ja die 
7150 Toten nicht mitzählen, wieviel von den 73 700 verfallen 
der sog. Unfallneurose, wie es heute bezeichnet wird r 
Die Berufsgenossenschaften haben leider bisher hierüber keine 
offiziellen Feststellungen versucht. Immerhin besitzen wir so viel 
statistische Unterlagen, um bestimmte für uns wichtige Schlüsse 
ziehen zu können: 

Schweizerische Schätzungen von 1922/24 besagen, daß auf 
etwa 150 Entschädigte eine Neurose kommt^ also_noch . nichT 
1 Prozent, Troemner ebenso. H s-r -vr; wiener ein Kenner des. 
Fachs, schätz tp^ af 1 CG verletzte nur einen Neurotiker. 

Sinc^cnarakteristische Einzelstatistik von Horn aus dem 
Eisenbahn-Dir.-Bez. Elberfeld besagt: 


„An Unfallneurosen erkrankten im Jahre 1911 3,14 Proz. Beamte 
und Hilfsbeamte, bei 637 tatsächlichen Unfällen, 0,63 Proz. Arbeiter 
bei 1595 Fällen, also 5 mal so selten, schließlich fast die Hälfte aller ver- 
letzten Privatpersonen, nämlich 46 Prozent bei 195 Unfällen. 


Einige Bemerkungen dazu: 

Es ist längst bekannt, daß Privatpersonen in uoeraus hohem 
Prozentsatz bei Straßen- und Eisenbahnunfällen Entschädigungs- 
ansprüche wegen nervöser Folgezustände stellen, oft ohne jegliche 
Verletzung und nur auf Grund des erlittenen Schrecks. Demgemäß 
sind heute rein nervöse Schäden nach Unfall von den privaten 
Haftpflichtversicherungen statutengemäß als nicht mehr ersatz- 
pflichtig festgesetzt. Die dort vielfach zu Tage getretene Maßlosig- 
keit der Ansprüche in den Prozessen gerade begüterter Kreise hat 
sicher dazu beigetragen, die Unfallneurosen allgemein zu dis- 
kreditieren. 

Die stärkere Beteiligung der Beamten in unserer Statistik 


wird darauf zurückgeführt, daß das Beamten-Unfalifürsorgegesetz 
besondere Lockungen und Vorteile biete — Erholungsurlaub in fast 
unbeschränkter Zahl, Badekuren, Sanatorien und schließlich hoch- 


prozentige frühzeitige Pensionierungen. 

Es ist ein Verdienst Prof. Stiers, daß er bei seinem Kampf 
gegen die Unfallneurose auch auf diese Neigung der Beamten den 
Finger gelegt hat und an einzelnen alarmierenden Beispielen, deren 
Verallgemeiperung natürlich unrecht wäre, namentlich an seinen 
50 unfallpensionierten Reichspost-Teleionistinnen gezeigt hat, 
welche Summen jahraus, jahrein unnötigerweise für Badereisen 


27 


Über Unfall- und Kriegsneurosen 

und Luxus oft bewilligt worden sind. Wenn Stier weiter darauf 
hinweist, wie die Krankmeldung der Beamten wegen Neurasthenie 
oft wunschbedingt sei und sich von äußern Einflüssen wie z. B. 1924 
von der Aufhebung des Unkündbarkeitsprivilegs stark beeinflußt 
zeigt, so läßt sich gleichwohl nicht das ganze Problem einfach da- 
mit erledigen, daß Stier*) erklärt, es sei die Frage, „ob jemand trotz 
nervöser Beschwerden arbeitet oder nicht, eben fast aus- 
schließlich eine W i 11 e-n sf r ag e“. 

Das Problem der Unfallneurose, an dem eine Generation von 
Ärzten, Volkswirten, Juristen ihren Scharfsinn versuchte, ist 
psychologisch und sozialökonomisch doch viel verwickelter und 
seine Lösung in letzter Linie vielleicht davon abhängig, wie weit 
man individual-ethische und wie weit kollektiv-ethische Momente 
betont und sie in Einklang bringt. Es ist aber sicherlich nicht zu 
erfassen, wenn man die tieferen neuzeitigen Erkenntnisse psycho-^ 
analytischer Art unberücksichtigt läßt, wenn .man rridit' Siels gegen- 
wärtig hat, daß hinter .jtem-b--z-v.ru iS t e n Willen zum Leben und 
Gesimd?ein bei 'inneren Konflikten ein unbewußter, instinktmäßiger 
Wille stehen kann, der auf Kranksein und selbst auf den Tod 
zweckgerichtet ist, genau so wie trotz bewußter und demonstrier- 
ter Abneigung und Abwehr namentlich in der weiblichen Seele oft 
heftiges triebmäßiges Verlangen wirkt; und so erkennen wir auch 
hinter der bewußten Überzeugung, arbeiten und schaffen zu wollen, 
in den Neurosen unbewußte, triebmäßige Hemmungen und Fixierung 
körperlicher Störungen, deren letzte Quelle in tief versteckten 
Komplexen liegt. 

Erst die Aufdeckung dieser psychischen Quellen in der Unfall- 
neurose mit dem praktischen Ziel ihrer psychotherapeutischen Auf- 
lösung wird uns ihr wahres Wesen und das dem Gesunden fast un- 
verständliche Verharren in der oft ganz unökonomischen Krankheit 
und Arbeitsunfähigkeit verständlich machen. 

II. 

Überblicken wir nach diesem programmatischen Vorstoß die 
ärztliche und rechtliche Auffassung, die die Unfallneurose, die 
frühere „traumatische Neuros e“, im Laufe der letzten 
40 Jahre bis heute erfuhr, so kann man konstatieren, daß die an- 
fängliche Idee von einer Nervenkrankheit sui generis infolge mole- 
kularer Schädigung der Ducken marks- und Gehirn-Substanz durch 
Choc heute restlos aufgegeben ist. Immer sicherer hat sich die 
Erkenntnis durchgesetzt, daß die durch den Unfall gesetzte Körper- 
liche Verletzung und Erschütterung in den späteren neurotischen 
Erscheinungen keine Rolle mehr spielt, sondern daß nach Abklingen 
der unmittelbaren Schreckwirkung und dem biologischen Abschluß 
des Heilprozesses das Unfallereignis nur noch psychisch, curch seine 
Erlebensmomente krankmachend wirkt. Nach der Auffassung von 

*) E. Stier; über die sogenannten Unfallneurosen. 1926 G. Thieme,’ 
Leipzig S. 32. 


28 


Über Unfall- und Kriegsneurosen 


Bonhoeffer, Stier, His u. a. sollen die neurotischen Erscheinungen 
überhaupt nicht mehr als Krarikheitssymptome anerkannt werden, 
sondern nur als psychologische Reaktionen auf das Unfallereignis 
bei besonders veranlagten, durchweg psychopathischen Menschen, 
oder, nach Stiers Formulierung, „daß es verschiedene Typen von 
Neuro - bezw. Psychopathen sind, die nach Unfällen auf 
die Tatsache der gesetzlichen Versicherung ihrer, 
konstitutionellen Eigenart entsprechend reagieren“. 

Dieser psychische Reaktionsvorgang oder wie wir sagen, 
dieser neurotische Erkränkungsmechanisrnus wird nach der herr- 
schenden Anschauung eingespielt in erster Linie durch .den anläß- 
lich des Unfalls geweckten und ständig genährten Wunsch, einen • 
möglichst hohen Prozentsatz der gesetzlichen Rente zugesprochen 
zu erhalten, und gesteigert durch suggestive Einflüsse der Um- 
gebung oder auch von Ärzten, wenn sie unklugerweise voreilig von 
Gehirnerschütterung sprechen, ungünstige Prognosen stellen usw. 

Allgemein bekannt sind die krankmachenden Momente des 
sog. Rentenkampfs, die sich in steigender Heftigkeit von 
Instanz zu Instanz geltend machen. Seit längerer Zeit bereits ge- 
langten die höchsten Spruchstellen dazu, die schädigenden Einflüsse 
dieses Kampfes ebenso wie die vermeintlich durch „Einbildung“ 
entstandenen Krankheitsmomente nicht als entschädigungs- 
pflichtige Unfaüfolgen anzusehen. Eine grundsätzliche und damit 
für alle anderen Spruchstellen judikatorisch verbindliche Entschei- 
dung über die ganze Frage ist aber erst vor einigen Monaten er- 
folgt. Ihr offenbar Wort für Wort genau abgewogener Text lautet: 

„Hat die Erwerbsunfähigkeit eines Versicherten ihren -Grund lediglich 
in seiner Vorstellung, krank zu sein, oder' in mehr oder minder bewußten 
Wünschen, so ist ein vorangegangener Üniali auch dann nicht eine wesent- 
liche Ursache der Erwerbsunfähigkeit, wenn der Versicherte sich aus 
Anlaß des Unfalls in den Gedanken, krank zu sein, hineingelebt hat, oder 
wenn die sein Vorstellungsleben beherrschenden Wünsche auf eine Un- 
fallentschädigung abzielen, oder die schädigenden Vorstellungen durch un- 
günstige Einflüsse des Entschädigungsverfahrens verstärkt worden sind.“ 

Die in ihrer praktischen Auswirkung noch nicht absehbare Ent- 
scheidung stützt sich in ihrer ausführlichen Begründung ausdrück- 
lich auf 8 von Prof. Stier aufgestellte Leitsätze, deren Inhalt sie 
sich zu eigen machte, nachdem er in Uebereinstimmung befunden 
sei mit der Auffassung von maßgeblichen Stellen deutscher Uni- 
versitäten und vieler Obergutachter, namentlich auch mit Naegeli, 
Reichardt, Bonhoeffer, His. 

Unsere Aufgabe muß es sein, festzustellen: 

1. welche empirischen medizinischen Tatsachen lagen dem 
R. V. A. für seine Entscheidung als Beweismaterial vor? 2. welche 
psychologischen Schlüsse waren es, kraft deren die Unfallneurose 
ärztlich als eine „Pseudokrankheit“ und rechtlich als nicht 
durch Unfall bedingt erklärt wurde. 3. Die Konsequenzen, die sich 
aus dieser psychologischen Theorie und der von ihr geforderten 
radikalen „Psychotherapie magna sterilisans“ ergeben. 



Über Unfall- und Kriegsneurosen 


29 


| 

Zu Punkt. I! als Beweis für die nur wunschhafte Natur der 
vJnfaiineurosfc wird angeführt: 

a) Die Schwere und Hartnäckigkeit des Falles hängt nicht von der 
Schwere der Verletzung und Erschütterung ab. sondern kleine» bisweilen 
körperlich kaum zu rechnende Untälle können sich zu immer größeren Be- 
schwerden ausgestaiten. 

b) Statistische Vergleiche des Verlaufs der Unfälle bei Versicherten 
und Ünversicherten und mit Stoaten, in denen andere Abfindungsmöglich- 
keiten der Betriebsunfälle bestehen, haben ergeben: die durch Unfall er- 
zeugten akuten psycho-nervösen Störungen, von denen auch die 
festeste Persönlichkeit nicht verschont bleibt, wenn nur die Erschütterung 
gewaltig genug ist, verlieren sich durchweg, die nervösen Chcc-Erschei- 
nungen klingen in wenigen Wochen, und selbst die schwersten, etwa 
nach Erdbeben, in wenigen Monaten, ab. Sie hinterlassen regulärerweise 
keine neurotischen Dauerfolgen, sofern Gedanken und Gemüt des Ver- 
letzten nicht durch lockende Entschädigungsansprüche und Rentenkämpie 
beherrscht werden. 


c) 


w Bei endgültiger Ablehnung der Rentenwünsche tritt nach Stier 
„der Zwang des Lebens“ in Wirkung; „die Berufsarbeit wird wieder ge- 
leistet, wie früher, und die „Unfallneurose“ ist „geheilt“. Stier beruit sich 
hierbei auf die .-Feststellungen von Panse über das Schicksal von 
50 alten Rentenempfängern, denen nach jahrelangem Bezug die Rente ent- 
zogen wurden, und die nach der Stierschen Ausdrucksweise „nach einer 
Anstandspause von einigen Monaten“, ebenso wie 50 andere durch Kapital 
Abgefundenen, wieder voll erwerbsfähig wären. (S. 33.) 

Wer Panses Arbeit genauer studiert, sieht zu seinem Erstaunen,, 
daß die Deutung der Arbeit durch Stier völlig irrig, ja unbegreif- 
lich ist.*) Denn in Wirklichkeit ist kein einziger Fall von zwangs- 
versicherten Unfallneurotikern dort verzeichnet, bei dem 
volle Erwerbsfähigkeit, im Sinne der Fähigkeit, die Berufsarbeit 
wieder aufzunehmen, durch die Entrentung erzielt war. Aber auch 
nach Berufswechsel ist es nur in einem Fall, der noch dazu ganz 
atypisch war (löjähriger Mechanikerlehrling), zutreffend, während 
31 weitere nur beschränkt oder gar nicht berufsfähig wurden und 
teils sogar verwahrlosten. Die übrigen 88 Fälle betreffen die 
oben charakterisierten Unfalientschädigungsan Sprüche von Pri- 
vaten, die uns hier nicht interessieren. 

Hinsichtlich des „Erfolgs“ durch Rentenentziehung befinde ich 
mich mit engsten rachgenossen in Übereinstimmung, wenn hierfür 
überhaupt noch viel gesichertere und zeitlich ausgedehntere Beob- 
achtungen gefordert werden, insbesondere auch, inwieweit jene von 
der Rentenneurose „Geheilten“ der öffentlichen W ohlfahrt zur Last 
fallen oder etwa kriminell werden, wie es Panse bei 2 3 P r o_z e n t 
der entrenteten Kriegsneurotiker festgestellt hat, oder durch Selbst- 


tötung enden. .... 

Doch wir wollen hier nicht von diesen und anderen Unvoll- 
kommenheiten des Beweismaterials allein die Ablehnung jenes radi- 
kalen Verfahrens herleiten, denn unsere Bedenken dagegen beruhen 
auf einer grundsätzlich andersartigen Auffassung des Wesens der 
Neurose überhaupt, und damit übereinstimmend unsrer ärztlichen 


*) Vgl. meine Abhandlung in Aerztl. Sachverst.-Zeitg. vom 15. 6. 27 u. 
Dt. Med. W. Nr. 41, 1926 sowie Nr. 21, 1927. 


30 über Unfall- und Kriegsneurosen 

f 

Aufgabe. Damit aber sind wir bei unserem Punkt II angelangt, 
der Durchleuchtung der vom R. V. A. akzeptierten Theorie. 

Eine kurze Vorbemerkung! Mit bewußter Zurückhaltung und 
Kompetenzbeschränkung beruft sich der entscheidende Senat immer 
wieder auf die ihm von Prof. Stier vorgetragene Lehrmeinung hin- 
• sichtlich der seelischen Verfassung des Unfallneurotikers und der 
psychologischen Gründe seiner vermeintlichen Erwerbsunfähig- 
keit. Das R. V. A. verwahrt sich sogar gegen die von Stier aus- 
gesprochene Ansicht, es hätte nunmehr endgültig zum Begriff der 
traumatischen Neurose Stellung genommen; vielmehr soll nach wie 
vor jede Spruchstelle das Recht haben, nach ihrer Überzeugung 
auch. eine andere ihr vorgetragene medizinische Lelirmeinung zu 
akzeptieren. 

Die psychologischen Hintergründe der Entscheidung sind am 
einfachsten aus dem Text von Leitsatz 7 und 8 zu erkennen. 


Die körperliche oder geistige Fähigkeit, verwertbare Arbeit zu' leisten, 
also die Erwerbsfähigkeit, ist bei den sogenannten Unfallneurotikern, wenn 
nicht sonst eine Krankheit vorliegt, nicht eingeschränkt oder gar aufge- 
hoben; sie ist vielmehr durch die Vorstellung, arbeitsunfähig zu sein una 
aui Entschädigung Anspruch zu haben, mit dem daraus resultierenden 
Mangel an Antrieb zur Arbeit nur gehemmt. Da diese falsche seelische 
Einstellung, die dieser Hemmung zugrunde liegt, nicht durch den Unfall 
wesentlich bedingt ist, so kommt die Annahme von Erwerbsunfähigkeit 
oder Erwerbsbeschränkung durch Unfallfolge für die sogenannte traumati- 
sche Neurose nicht in Betracht, und zwar auch dann nicht, wenn der 
Zustand jahrelang fortbesteht. , , , .. 

Die Ursachen für die Entstehung der sogenannten Unfallneurose üf-gen 
in unseren Gesetzen, in der Art ihrer Handhabung und Auslegung, in der 
oft nicht fehlerfreien Art der ärztlichen Begutachtung und in den sehr er- 
heblichen materiellen und sonstigen Vorteilen begründet, die denjenigen 
erwachsen, bei denen das Vorliegen einer Unfallneurose anerkannt wird. 

Wir sehen also, daß die Ursache für die Erwerbsbeschränkung 
des Unfallneurotikers in erster Linie in unsern Gesetzen gesehen 
wird, und in einer falschen seelischen Einstellung. Denn diese Ein- 
stellung soll es sein, die den Antrieb zur Arbeit bei ihm hemmt. Eine 
solche seelische Hemmung des Arbeitsantriebs oder Arbeitswillens, 
wie es später heißt, wird interessanterweise vom Senat generell als 
rechtlich vollwertige Ursache von Er werbsbeschr änkung anerkannt, 
sofern nur die Hemmung nicht im bewußten Willen liege; im 
vorliegenden Fall aber sei sie hervorgegangen aus Vorstellungen 
und Wünschen, denen sich der Unfallverletzte anläßlich des 
Unfalls hingegeben habe, die er „übermächtig“ werden ließ. Die 
Stiersche Theorie unterstellt, daß dies nicht schicksalhaft kausal, 
nicht aus medizinisch-biologischer Notwendigkeit geschah, son- 
dern hier bricht die Stiersche Argumentation ab, und es 

bleibt dahingestellt, warum dieser Unfallverletzte — unter 100 der 
einzige — sich jenem schädlichen Gedankengang hingab. Die 
juristische Auffassung, die sich hierauf stützt, gelangt nun 
folgerichtig dazu, daß „somit die wesentliche, ja die allein maß- 
gebliche Ursache der Schädigung in der Tatsache der vermeint- 
• liehen Entschädigungsberechtigung und in der Beschäftigung mit 
derartigen wunschbetonten Gedanken liegt“. Mit andern Worten: 


über Unfai!- und Kriegsneurosen 


31 


es ist letzthin ein psychologischer „Mißbrauch der sozialfürsorge- 
rischen ' Gesetze*', wie Sch eie r es ausdrückt, der dem Renten- 
neurotiker bei seiner „falschen seelischen Einstellung“ vom Staat 
unterstellt wird. 

Wenige Worte der Kritik, denn es ist unmöglich, sich mit der 
unvollständigen Stiersc'nen Argumentation zufrieden zu geben. 
Immer wieder ist uns von Stier, Bonhoeffer u. a. gesagt worden, 
daß nur psychisch besonders Veranlagte oder Psychopathen auf 
das Unfaileieignis neurotisch oder nach dem Obigen mit schäd- 
lichen wunschbetonten Gedanken reagieren. Wenn diese Reaktions- 
weise durch die psychopathische Anlage verursacht wird, dann 
liegt der rechtlich maßgebliche, medizinisch-biologische 
wesentliche Zusammenhang vor. Ebenso: wenn die Beschäftigung 
mit den schädlichen Gedanken unbewußt Unwillen tlich 
erfolgte, wie man es bisher annahm, so liegt wiederum die vom 
Senat anerkannte Form nicht verantwortlicher und entschädigungs- 
pflichtiger Erwerbsbeschränkung vor. Sofern aber Stier umgekehrt 
die Beschäftigung mit solchen schädlichen Vorstellungen als ein 
wahlfreies willentliches Handeln ansieht, etwa hervorgegangen aus 
unerlaubten Motiven, dann brauchen wir nicht den Nachweis und 
die Berufung darauf, daß nur bei psychopathischer. Menschen die 
Unfallneurose auftrete — es sei denn die neuartige Annahme.; es 
gehöre charakterologische Minderwertigkeit und Psychopathie zu- 
einander. Dann möge man auch wie Weiler- München, den Mut 
haben, zu erklären, daß die Unfallneurosen ethischer Minderwertig- 
keit entspringen und ihre Träger Betrüger und Schwindler seien, 
bei denen die Psychopathie nebensächlich ist. 

Ich darf Sie nicht länger mit der Zergliederung einer psycho- 
logischen Theorie auihaiieri, die nicht durchzugreifen und mangels 
tieferer Seelenschau den individuellen lebendigen Inhalt einer leiden- 
den Persönlichkeit nicht zu erfühlen vermag. Aber ich will sogleich 
Folgendes bekennen: Auch wenn wir in der Unfallneurose, auf Grund 
einer lebendigeren psychologischen Theorie, sei es rreudsche 
Analyse, Adlersche Indi vidualp syehM ogie oder sonst eine psychos- 
"kopisch' "tiefer dringende Methode, genetisch erkennen als eine 
dispositioneile, schicksalsmäßig, gewordene, genau wie andere Neu- 
rosen des Arztes bedürftige abnorme seelische Verfassung, so 
könnte der Jurist auch dann noch entscheiden, daß die Rolle, die 
das Unfallereignis in diesem neurotischen Drama spielt, recht- 
lich unwesentlich ist, weil es, nach unserer eigenen Theorie, 
lediglich den Vorhang fortriß von einem längst vor dem Unfall 
bestehenden, von der Außenwelt bis dahin noch nicht demonstrier- 
ten neurotisch-tragischen Seelenzustand. 

Wie auch diese Rechtsfrage entschieden würde, unsere ärztliche 
Stellung zum Neurotiker wird bei unserer Auffassung eine 
grundsätzlich andere und gewiß würdigere sein, ihn überhaupt erst 
. der bisher gänzlich fehlenden psychotherapeutischen Beeinflussung 
einmal zugänglich machen. Wir wollen dabei Bonhoeffer gern zu- 

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geben, daß diese Behandlung am besten schon eingreift, bevor der 
Konflikt um die Rente Fuß fassen konnte. 

Noch ein Wort zum 3. Punkt, den ärztlichen Konsequenzen der 
Stierschen Theorie! 

Naegeli-Zürich hatte schon in der Kriegszeit seine Auffassung, 
daß Entziehung des Neurosengewinns die Preisgabe der Krank- 
heitssymptome und Arbeitsaufnahme erzwinge, für einen viel 
weiteren Kreis als den der Unfallneurotiker geltend, dargestellt Er 
führte außer den Kriegsneurosen noch 6 Parallelen an, nämlich die 
Invaliditäts- bezw. Pensionierungsneurosen, die Neurosen der 
Krankenkassen-Versicherten, deren unbewußtes Ziel auf Kranken- 
geld usw. abgestelit ist, die Behandiungsneurose der Beamten mit 
ihrer Kuriersucht bei Dienstschäden, die Abtreibungsneurosen, die 
Rachewunschneurosen der Unterlegenen nach Prügeleien mit ihren 
Regreßansprüchen, schließlich Haftpsychosen, deren geheimes Ziel 
leicht verständlich ist Die gleiche psychologische Wurzel aber ist 
auch in den neurotischen Beschwerden erkennbar, r die sich nach 
Kündigung, vor Prüfungen, vor oder im Laufe gerichtlicher Prozesse- 
schützend einstellen. 


Immer erscheint es wie eine Lockprämie, die in instinktsicherer 
Weise den nervösen Erkrankungsmechanismus in Gang setzt und 
eindrucksvolle Krankheitsbilder erzeugt. 

Diese letzthin aus Freuds und Adlers Theorie hervor- 
gegangene- Erkenntnis von dem geheimen Sinn der Krankheit gilt," 
wie wir heute wissen, in noch viel weiterem Umfang. Auch His 
zitiert, wie selbstverständlich die Bemerkung von Meyer- 
Müller, daß kein prinzipieller Unterschied bestehe zwischen dem 
auf Geldentschädigung gerichteten Begehren in der trau- 
matischen Neurose und etwa dem auf Verzärtelung und Bevor- 
zugung durch die Mutter hinzielenden Wünschen als Krankheits- 
gewinn bei einer „kindlichen Magen-, Darm- oder Asthmaneurose“. 


Wenn es aber zutrifft, daß in allen Neurosen die gleiche auf 
Gewinn abgestellte unbewußte psychische Technik wirksam ist, 
daß überall ein Gewinn die krankhaften oder „falschen“ seelischen 
Einstellungen determiniert, dann müssen gerade die Anhänger der 
Heilung mittels Verweigerung des Krankheitsgewinns sich 
entschließen — und ich glaube, daß Prof. Stier sich dieser Konse- 
quenz nicht • entzieht — , ich sage, dann müßten sie ihre bei den 
Unfallneurosen erfolgreiche Therapie unterschiedslos auf alle 
Neurosen und selbst die Zweck psychosen ausdehnen, d. h. Ab- 
lehnung jeglicher Rücksichtnahme auf die nervösen Krankheits- 
erscheinungen, wie alarmierend sie auch seien, Verweigerung jeder 
Behandlungsmaßnahme und Aberkennung- des Rechts, ihre Be- 
schwerden als Krankheit zu bezeichnen. 

Sie müssen sich selbst im einzelnen die praktischen Folgen 
einer solchen generell festzulegenden Psychotherapia magna 
sterilisans vorstellen und die Gesundung sepidemie (StierX 
die sich auch hier „nach einer Anstandspause von wenigen Monaten“ 



Uber Unfall- und Kriegsneurosen 33 

ln immenser Ausdehnung zeigen mußte, und Sie werden mit mir 
erkennen, daß diese Methode unmöglich das wahre Wesen der 
Neurose oder gar der neurotischen Persönlichkeit erfaßt haben 
kann. 

Wer es vermag, und sich der Arbeit unterzieht, wie es heute 
vom Psychotherapeuten gefordert wird, die geistige Persönlichkeit 
eines Neurotikers in psychoanalytischer Vertiefung zu ergründen, 
wird ais letzte psychische Quelle der Neurose einen ins Unbewußte 
verdrängten, aus eigener Kraft nicht lösbaren seelischen Konflikt, 
eine Antinomie vitaler Strebungen erkennen. 

Gerade tiefer veranlagte Menschen sind diesen Konflikts- 
Situationen ausgesetzt oder erleben sie wenigstens in einer leiden- 
den Form — his zur Unerträglichkeit. Dieses Gefühl der Unerträg- 
lichkeit ist es aber, um dessentwillen sich als seelischer Selbstschutz 
der neurotische Erkrankungsmechanismus instinktmäßig ins Spiel 
setzt. Das geheime Ziel, der eigentliche Sinn, um den es in dem 
Konflikt geht, um den unbewußt gerungen wird, ist situativ-inhalt- 
lich, wie nach persönlichem und Menschheitswert natürlich durch- 
aus verschieden. Es kann Macht, Wille und Geltungsbedürfnis sein, 
wie es Adler für jede Neurose unterschiedslos annimmt, es können 
Rachewunsch und andere narzistische Ressentiments sein, die durch 
die Neurose gedeckt werden sollen; es kann um Liebe und ihre Ver- 
tagung gehen, aber auch Selbstverpflichtung, echte Scham, Rettung 
der Selbstachtung und andere seelische Güter können es sein, die 
der Neurotiker, namentlich der Zwangsneurotiker, gefährdet fühlt, 
wenn er den Hafen der Krankheit verlassen würde. 

Ich glaube nun nicht, daß die Höhe des Ziels, die Wert- 
höhe der Dinge, um derentwillen sich die Konfliktsneuro.se ent- 
wickelt, wesentlich von der Höhe der Bildung, wie man sagt, von 
der sozialen Stellung und der Intelligenzhöhe, abhängt, sondern doch 
vor allem von Eigenschaften des Gemüts und von letzten Eigen- 
werten der seelisch geistigen Persönlichkeit. 

Und so kann es kommen, daß beispielsweise ein Groß- 
industrieller, mit starkem Macht- und Geltungsbedürfnis, eine 
schwere Neurose entfaltet, wenn er seine großen Trustpläne miß- 
lingen und vom Nebenbuhler durchgeführt sieht und daß umgekehrt 
etwa ein Industriearbeiter in eine Unfallneurose hineingleitet, auf 
Grund vergeblichen jahrelangen Ringens nach höherem Lebensinhalt jj 
oder um das Ziel, seine begabten Kinder dem Arbeitermiiieu zu ent- j; 
reißen: Vergegenwärtigen wir uns nämlich die vielfach klare Er- 
kenntnis des heutigen Arbeiters hinsichtlich seiner lebenslänglichen!' 
ökonomischen „proletarischen“ Unsicherheit, sowie das Gefühl seiner 1 , 
Stigmatisierung und Nachteile als Besitzloser, seiner Aussichvslosig- . 
keit hinsichtlich Aufstieg und Aenderung des monotonen Lebens- 
rhythmus — es sei denn eben, durch einen dazwischen tretenden 
Unfall oder Krankheit — , so wird man es bei der Eigenart psycho- 
pathischer Persönlichkeiten verstehen können, wie bei ihnen das 
Unfallereignis den chronischen, sozusagen schwelenden Konflikts- 


34 


über Unfall- und Kriegsneurosen 


zustand zur- offenen Neurose entfacht, und naturgemäß in der ihm 

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soziologisch adäquaten Form der „xyehStenneuruSc , uiau 
verstehen können, ohne die allzu bequeme und hochmütige Fiktion, 
daß im Gemüt eines Arbeiters oder sonstigen proletarisch Ab- 
hängigen nur das eine Streben wirksam sei, nämlich nach Müßig- 
gang und nach dem fragwürdigen mit so vielen Häßlichkeiten er- 


kauften Rentengewinn. 

Üie Behandlung der Unfallneurose erscheint bei solcher Be- 
trachtungsweise freilich viel komplizierter und mühsamer, als die 
uns vorgeschlagene Radikalkur, aber sie kann uns auch ein bisher 
geradezu verachtetes*) großes Feld für wahrhaft ärztncne Betäti- 
gung eröffnen und für fruchtbare Mitarbeit an den sozialen Auf- 
gaben der Menschheit. 


Diskussionsbemerkungen. 

Dr. phil. H e i ß i e r (Gast) nimmt zu dem Referat von der 
wissenschaftlichen, rechtlichen und sozialen Seite Stellung, er be- 
leuchtet historisch die Stellungnahme der Medizin zu den Neurosen 
und weist darauf hin, daß sich durch Binswanger eine für die 
Unfallverletzten günstige medizinische Situation herausgebildet hat, 
daß jedoch im Jahre 1916 durch den Neurologenkongreß zu München 
eine Wandlung eingetreten ist. Dr. H. erklärt aus dem praktisch 
kapitalistischen Interesse des Staates die negative Einstellung zu. 
den Unfallverletzten. Er führt ein Beispiel dafür an, wie positiv das 
Gesetz früher für die Unfallverletzten eingetreten sei, im Gegen- 
satz zu heute, wo die Kosten für ein Bad als Luxus angesehen, nur 
dürftigste Ernährungsmittel zugebilligt werden und dem Verletzten 
und dessen Angehörigen gegenüber das rigoroseste juristische 
Examen einsetzt. Dr. H. beklagt sich ferner darüber, daß sich die 
rechtliche Seite hinter der ärztlichen verschanzen will, und fordert 
die Ärzte auf, dies zu vereiteln. 

Dr. med. Panse, Wittenau (Gast), meint entgegen der An- 
schauung von Dr. Levy-Suhl, daß die Behandlung der Unfallneurose 
nicht in das Bereich der Psychotherapie, speziell der Psychoanalyse 
gehöre, weil diese Behandlungs weisen auf der Anschauung basieren, 
daß die eigentlich krankmachenden Konflikte der Vergangenheit an- 
gehören. Bei der Unfallneurose sei der Konflikt aber ein aktueller. 
Deswegen wäre der gegebene therapeutische Weg, diesen Konflikt 
zum Wegfall zu bringen durch Ablehnung der Rente. Es sei darum 
notwendig, vor allem die Entschäöigungsfrage endgültig zu regeln. 
— Redner erklärt ferner, er könne auch keine Härte darin sehen, 
wenn noch im Beginn der traumatischen Neurose, etwa nach 13 
Wochen, der Gutachter die Rente aberkennt. Schwerer träfe das 
allerdings den Patienten, bei dein durch eine allzulange Auszahlung 
der Rente auch die hysterischen Mechanismen bereits starker 


*) Wie ich höre, beschäftigt sich Kollegin Erna 3 a 11 neuerdings am 
Krankenhaus Moabit mit frischen Kopfunfallverletzten in psychothera- 
peutischem Sinne. 


über Unfall- und Kriegsneurosen 


35 


fixiert sind. Seiner Erfahrung nach können aber auch noch in 
solchen Fällen Patienten durch Entzug der Rente arbeitsfähig ge- 
macht werden. Daß die Rentenneurotiker infolge des Entschädig 
gungsentzuges seelisch leiden, sei zu bedauern, müsse aber in Kauf 
genommen werden, damit sie ihrer Arbeit wieder zugeführt wer- 


den können, 

Dr. Max Cohn zitiert Nägeli, der für Kapitaiabfindung ein- 
trat, und erwähnt beispielsweise einen Patienten, der ohne zu arbei- 
ten querulierte, solange er Rente bezog, nach Kapitaiabfindung aber 
in einem halben Jahr wieder arbeitsfähig wurde: Rein wissen- 

schaftlich hält er die Frage der Rentenneurose noch nicht für spruch- 
reif, es seien psychoanalytische, allgemein psychotherapeutische 
Erwägungen und Weltanschauungsf'ragen zu berücksichtigen. Vor 
allem dürfe auch die Mentalität des arbeitenden Volkes nicht über- 
sehen werden. Dabei darf aber keineswegs der Arzt, als Gutachter, 
einer Vogelstraußpolitik des kapitalistischen Staates Vorschub 
leisten, die mit dem Prinzip des allgemeinen Rentenentzuges als 
„Heilfaktor“ doch nur den Verpflichtungen gegenüber dem Prole- 


tariat aus dem Wege gehen will. 

Paul L e v y (vom Gemeinde- und Staatsarbei cerverband, Sek- 
tion Krankenpflege, Gast) beleuchtet den Unterschied zwischen 
den Unfallfürsorgebestimmungen für Arbeiter und Beamte. Die 
Unfallzahl unter den Beamten ist fünfmal größer als bei den Arbei- 
tern. weil der Arbeitsschutz bei den Beamten schlechter ist als bei 
"den Arbeitern. Außerdem seien die Unfälle beim ärztlichen 
Hilfspersonal besonders groß, wenn die Iri- 
fektionen mit eingerechnet werden. Bei ihm wird, 
nach einer Verordnung vom 13. 2. 1924, eine Arbeitszeit von 60 
Stunden pro Woche, für die hier beschäftigten Beamten aber 120 
Stunden pro Woche vorgesehen. In Lübben und Sorau wird bis 
zu 122 Stunden die Woche Dienst gemacht. Unfälle und Infektionen 
sind bei derartiger Überlastung und Überanstrengung außerordent- 
lich zahlreich. — Die Unfallneurose selbst ist also nur das leizte 
Resultat einer Reihe von schweren Schädigungen, die den Kranken 
zuvor betroffen Haben. Diese Ursachen also muß man in erster 
Linie beseitigen, will man die Unfallneurose mit ihren kostspieligen 
Konsequenzen aus der Welt schaffen. 

T i e 1 k e (vom Internationalen Bund der Opfer des Krieges, 
und der Arbeit, Gast) führt aus, daß es außerordentlich oft 
mit Befremden festgestellt werden mußte, daß das Gutachten einer 
Autorität über das Gutachten eines kleinen Arztes aus der Provinz, 
der für Rentenbewilligung eintrat, den Sieg davontrug. Ferner ist 
es hierbei vorgekommen, daß solche Gutachten von einem Assisten- 
ten verfaßt und von der Autorität unterzeichnet worden sind, ohne 
daß der betreffende Professor selbst den Kranken gesehen hätte. 
So ist es auch nicht uninteressant zu erfahren, daß das Arbeits- 
ministerium zuweilen, über die negative Entscheidung des Gerichtes 


36 


Ober Unfall- und Kriegsneurosen 


hinweg, auf Antrag des Internationalen Bundes der Opfer des Krieges 
und der Arbeit dem von der Neurose Betroffenen eine Rente ge- 
währte. — Auch die bisherige Beurteilung der Frage, wie weit der 
Krieg als Ursache oder Auslösung einer Paralyse anzusehen sei, 
muß eine grundsätzliche Abänderung erfahren. Redner zeigt an 
einem Beispiel, wie ein im Kriege verwundeter und durch den 
Existenzkampf besonders nervös gewordener Patient deswegen 
zum Rentenneurotiker gestempelt wird, weil er, um bei den er- 
schwerten Nachkriegsverhältnissen leben zu können, einen Antrag 
um Erhöhung seiner Rente stellt. Redner ermahnt die Ärzte, sich 
das Leben eines Kranken vorzusteiien, der nervös und körperlich 
geschädigt ist und mit geringen Mitteln im Existenzkampf steht, falls 
sie wirklich objektive Gutachter sein wollen; es werde ihnen dann 
selber nicht glaubhaft sein, daß Menschen, die immer gearbeitet 
haben, sich um einer Rente willen krank stellen. Redner sieht in 
der Veranstaltung dieses Abends ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, 
daß die sozialistischen .Ärzte die Unfallkranken in ihrem - Kampf 
unterstützen werden, und hofft, daß auch die sozialistischen Juristen 
ihnen folgen. 

Dr. MinnaFlake wendet sich dagegen, daß ein Unfallverletzter 
bezw. auch ein Unfallneurotiker, dem nach Ablauf seiner Krankheit 
ein beschränktes Maß an Arbeitsfähigkeit bleibt, als gesund be- 
trachtet wird. Denn die Tatsache, daß ein Kranker wieder in die 
Möglichkeit gesetzt wird, irgendeine Arbeit zu leisten, ist noch lange 
nicht gleichbedeutend mit Gesundsein. 

Dr. Edgar Michaelis (Gast): Die Renten entschädigung 
aus Anlaß einer im Anschluß an einen Unfall ausgelösten Neurose 
entstammt einer Zeit, in der man an die somatische Genese des als 
„traumatische Neurose“ bezeichneten Krankheitsbildes glaubte. 
Diese Auffassung der. „molekularen“ Störungen im Zentralnerven- 
system hatte einen weitgehenden therapeutischen Nihilismus zur 
Folge. Indem man die Störung als wesentlich unbeeinflußbar an- 
sah, erzeugte man stationäre Krankbeitsbilder. Und indem der 
Arzt, anstatt zu behandeln, das Rentenverfahren selbst einleitete, 
erwuchs im Kranken naturgemäß der Wunsch' nach dauernder 
Sicherung und Entschädigung. 

Wir haben das ja im ganzen ähnlich anläßlich der Neurosen 
des Krieges erlebt. Ganz im Gegensatz zu dem ersten Dis- 
kussionsredner und in Übereinstimmung mit Kollegen Simmel 
möchte ich feststellen, daß die psychologische Auffassung der Neu- 
rosen des Krieges bei aller Notwendigkeit einer Vertiefung dieser 
und einer Kritik der eingeschlagenen Behandlungsmethoden, einen 
erheblichen Fortschritt bedeutete. Ich habe gleichfalls selbst „Neu- 
rotikerstationen“ geleitet und lediglich mit Hypnose usw., allgemein 
gesagt psychologischer Behandlung, ohne jeden Zwang, sehr gün- 
stige Resultate erzielt, gerade auch bei veralteten Fällen, die vor- 
her ungeheilt mit hoher Rente entlassen waren, oft schon 1 bis 


Cher Unfall- und Kri?gsneurosen 


37 


-3 Jahre. Auch hier war der Verdacht der „Rentenquetsche“ oft 
vorhanden. Aber wenn es gelang, die oft fast hilflosen Zitterer, 
'Gelähmten usw. von ihrem Leiden zu befreien, so war man der 
Dankbarkeit sicher, — und hatte bewiesen, daß eine Hilfe mög- 
lich ist. 

Für die Frage der U n f a 1 1 neurosen wird man unterscheiden 
müssen die chronischen, •verschleppten und die frischen Fälle. In 
ersieren wird eine Behandlung ja zweifellos auf große Schwierig- 
keiten stoßen. Immerhin ist denkbar, und wohl auch, besonders in 
der Schweiz, schon mit Erfolg versucht, selbst diesen Kranken zu 
zeigen, daß Gesundheit besser ist als Rente, und sie dann allmäh- 
lich in sachgemäßer Psychotherapie einer Heilung zuzuführen. 
Hier werden materielle Unterstützungen, eventl. im Sinne der Ka- 
pitalabfindung, nicht zu umgehen sein. Die bloße und brüske Ent- 
ziehung der Rente möchte auch ich für durchaus bedenklich halten 
— und mit dem' Vortragenden fragen, ob nicht Depressionen und 
•schwere Beeinträchtigungen dadurch ausgelöst werden können, 
abgesehen von der sozialen Schädigung und Verbitterung durch das 
Gefühl der erlittenen Unbill. 

In frischen Fällen mag eine psychotherapeutische Beruhigung 
und Wiederherstellung im Beginn der Reaktion Jas ganze Renten- 
verfahren überflüssig machen. Hier wird ein wirklich „humanes, 
liebevolles“ Eingehen, wie es etwa von M o n a k o w gefordert hat, 
notwendig sein, nicht die symptomatische Behandlung durch Elek- 
trisieren und Nicht-Beachtung, die jetzt vielfach üblich ist. 

So erhebt sich ganz allgemein die Forderung nach einer wirk- 
lich verstehenden und vorurteilsfreien Erfassung und Hilfsleistung. 
Die bloße Versagung der Rente und die Abstempelung des Er- 
krankten zum „Psychopathen“ in dem geringschätzigen, auch der 
Revision bedürftigen Sinne der „Minderwertigkeit“ fügt, anstatt zu 
helfen, zu dem Schaden des erlittenen Schicksals eine Verurteilung 
und Entwertung hinzu. Erst indem wir Ärzte wirklich behandeln 
und heilen, können wir zeigen, daß die Gewährung der Rente als 
solche unserer mangelnden Kenntnis entsprang, und daß wir jetzt 
besseres zu erstreben haben: die Gesundung. 

Dr. E. Simmel: Eine Diskussion, die im Rahmen des Ver- 
eins Sozialistischer Ärzte stattfindet, hat nicht die Aufgabe und auch 
nicht die Möglichkeit, ein Krankheitsproblem rein von der medi- 
zinischen Seite her zu klären oder zu entscheiden. Das muß 
.auch für die sogenannte Rentenneurose den fachwissenschaftlichen 
Gesellschaften Vorbehalten bleiben. -Tzu unserer Kompetenz ge- 
hört es jedoch, eine medizinische Spezialfrage aus ihrer Isoliertheit 
herauszuheben und im Zusammenhang mit den ökonomischen Be- 
dingtheiten soziologisch zu beleuchten. Diese Verpflichtung be- 
stand für den sozialistischen Arzt im besonderen Maße bei der 
JRentenneurose. Denn dieses Leiden ist eine spezielle Krankheit des 
Proletariats, des Lohnarbeiters, der gezwungen ist, um Ersatz zu 
kämpfen für jede Einbuße an Arbeitskraft, die sein einziges Sub- 


38 


über Unfall- und Kriegsneurosen 


sistenzmittei ist. / Wir erweitern darum aus guten Gründen eine 
solche Aussprache iiher den engeren Kreis von Kollegen hinaus, 
weil wir uns verpflichtet fühlen, besonders jenen Persönlichkeiten 
Gehör zu schaffen, die sonst nur Objekte der jeweiligen Gesund- 
heitspolitik sind: den Vertretern der leidenden Masse selbst, d. h. 
den Patienten. — Wir als Ärzte können nicht genug die Mahnung 
des Vertreters des Internationalen Bundes der Opfer des Krieges 
und der Arbeit beherzigen, uns — ehe wir ein Gutachten abschließen 

— in das Seelenleben eines Kranken zu versetzen, der, nur mit 
geringsten Mitteln im Existenzkampf stehend, an seiner eigenem 
Arbeitskraft verzweifelt, 

Kollege Le-vy-Suhl hat mit Recht darauf hingewiesen, daß 
gerade von psychoanalytischer Seite aus Wesentliches zu der Ren- 
tenneurosenfrage zu sagen ist. Entgegen den Ansichten des Kolle- 
gen Panse muß ich darauf hinweisen, daß der Konflikt, der sich 
als Rentenkampf darstellt, nur scheinbar ein aktueller ist; in Wirk- 
lichkeit wird es sich bei der echten Rentenneurose um tiefer- 
gehende, unbewußte Konflikte im Zusammenhang mit einer ent- 
sagungsvollen Realität handeln, für die der Rentenkampf nur ein 
äußeres Symbol darstellt. — Zum mindestens steckt hinter dem 
Rentengewinn der von Freud so genannte „sekundäre Krank- 
heitsgewinn“. An diesen klammert sich der Neurotiker, weil er in 
ihm unbewußt einen Ersatz findet für den Mangel an Liebe und 
Beachtung, den er sonst als Einzelner, in der Masse Verlorener, 
empfindet. — Gewiß kann ein solcher Neurotiker zuweilen auch 
durch eine Kapitalabfindung, die dann gleichzeitig neben der realen 
eine symbolische Befriedigung bedeutet, sein Symptom verlieren, 

— ein Vorgang, wie ich ihn häufig genug bei Kriegsneuroti- 
kern beobachten konnte. Auch hier hatte man gemeint, der Kriegs- 
neurotiker wäre durch Wunschbefriedigung gesundet, weil die An- 
forderung zum Kriegsdienst aufgehört hätte. In Wirklichkeit war 
nur ein Symptom wandel eingetreten; denn die ehemaligen 
Kriegsneurotiker haben heute „Friedensneurosen“ in Form von 
Arbeitshemmungen, Potenzstörungen u. a. m. Auch die gegen die 
Vorkriegsjahre stark angewachsene Kriminalität ist eine solche 
Kriegsneurose. — Vor allem muß von psychoanalytischer Seite her 
gefordert werden, daß man auch beim Proletarier einen Symptom- 
komplex als psychoneurotische Krankheit anerkennt, die man den 
Angehörigen der besitzenden Klassen heute schon eher konzidiert: 
das ist die neurotische Arbeitshemmung, die Arbeitsphobie. 

Auch psychoanalytischerseits ist noch einmal hervorzuheben, 
was schon mehrfach in der Diskussion betont wurde, daß Gutach- 
ter, die eine Rentenneurose durch die brüske Wegnahme der Rente 
„zu heilen“ glauben, selbst unbewußt die Exponenten einer Klassen- 
medizin sind. Denn der Staat steht ohnmächtig den Anforderungen 
jener Masse gegenüber, die durch ein Gesundheitsopfer sich ein 
Recht an ihn erworben hat, und sucht darum die Tatsache, daß die. 


fünfjähriges Bestehen d. Lehrstuhls f. soziale Hygiene in Sowjet-Rußland 39' 


Renten neu rose eine wirkliche Krankheit ist. 
einfach zu ignorieren, c. h. zu „verdrängen“. 

Als sozialistische Ärzte haben wir die Aufgabe, darüuer zu. 
wachen, daß nicht ein medizinischer Massenjustizmord geschieht. 
Wir müssen uns ferner auch klar darüber sein, daß mit der jetzt 
beabsichtigten universellen Abschaffung der Rentenentschädigung zu 
einem ersten Schiag ausgeholt wird, der die gesamte Sozialversiche- 
rung überhaupt treffen kann. Denn schon werden die Stimmen 
überlaut, die behaupten, daß der Anspruch des kranken Proletariers 
auf Sicherung gegen Gesundheitsschäden nur eine roige seiner „Be- 
gehrlichkeit“- ist, genährt durch seine Ansprüche aus der sozialen 
Versicherung. — Paradox ist es aber, von der „H e i 1 u n g“ einer 
Krankheit sprechen zu wollen, die -nur darin besteht, daß man dem 
Kranken die Mittel raubt, die ihn noch zum Leben befähigen. — 
Gleichwohl wird niemand von uns etwas dagegen haben, wenn der 
Staat dem renteheischenden Neurotiker die Rente wegnimmt. Aller- 
dings muß er etwas anderes, wesentliches ihm . dafür gewähren: 
d. i. eine sachgemäße, der modernen. Forschung entsprechende 
Krankenbehandlung. 


Fünfjähriges Bestehen 
des Lehrstuhls für soziale Hggiene 
in Sowjet-Rußland 

von N. Semaschko 

Vom 19—25. Juni d. J. fand in Berlin eine russische Naturforscher- 
woche statt, die die allgemeine Aufmerksamkeit der deutschen Wissen- 
schaft erregte. Die Vorträge waren außerordentlich stark besucht und fan- 
den in der gesamten Presse Widerhall und Anerkennung. Ganz besonde- 
res Interesse fand das Referat des Volkskommissars für das Gesundheits- 
wesen, des Gen. Semaschko, das wir — in Gert wesentlichen Grund- 
zügen _ nachstehend zum Abdruck bringen können. nMe Kea. 

Das Volkskommissariat für Gesundheitswesen machte sich 
vom ersten Tag seines Bestehens an den Grundsatz der Prophy- 
laxe in seiner praktischen Tätigkeit zu eigen. Abgesehen von der 
Organisation der medizinischen Versorgung der Bevölkerung 
bildete die Gesundung der Arbeits- und Milieuverhältnisse den Ge- 
genstand ständiger Sorge, der Gesundheitsdienstorgane Diese 
Richtung auf dem Gebiete der Gesundheitsfürsorge mußte natür- 
lich auch den Charakter der Vorbildung der Aerzte, das System 
des medizinischen Unterrichts beeinflussen. . , 

Der medizinische Unterricht wurde in der Tat einer ent- 
sprechenden Umgestaltung unterzogen, um Arzte heranzubilden. 
a) mit einer ernsten naturwissenschaftlichen Vorbildung, mit 
ausreichenden physikalisch-chemischen und biologischen 
Kenntnissen, um die den biologischen Vorgängen zugrunde- 
liegenden Gesetze zu verstehen; 


•40 Fünfjähriges Bestehen d. Lehrstuhls f. sozial? Hygiene in Sowjet-Rußland 


b) mit einer sozialen Vorbildung zur einsichtsvollen Wertung 
der umgebenden sozialen Erscheinungen; 

c) mit einer materialistischen Denkweise, ohne welche keine 
richtige Erkenntnis der Wechselwirkungen zwischen dem 
Organismus und dem Milieu möglich ist; 

d) mit der Fähigkeit, die Kranken in der Sphäre ihres werk- 
tätigen Lebens, ihrer Milieu- und Lebensgepflogenheiten zu 
betrachten; 

e) mit der Fähigkeit, die beruflichen, sozialen und milieu- 
mäßigen Bedingungen, die die Entstehung von Krankheiten 
begünstigen, zu erfassen, und die Wege zu ihrer Vor- 
beugung anzugeben; 

f) mit einer praktischen Vorbereitung zur ärztlichen Hilfelei- 
stung für die Bevölkerung. 

Um Ärzte vorzubereiten, die all diesen Anforderungen Genüge 
•leisten, war es erforderlich, den Umfang des Unterrichts in pro- 
phylaktischen Disziplinen zu erweitern und die soziale Hygiene als 
obligatorisches Unterrichtsfach einzuführen. 

Gleichzeitig zeigte sich' immer deutlicher die dringende Not- 
wendigkeit, im Zusammenhang mit dem Lehrstuhl über eine Klinik 
für soziale und Berufskrankheiten zu verfügen. Diese Klinik wurde 
unter der Leitung von Prof. Semaschko im November 1923 er- 
öffnet. An ihrer Organisation hatten sich drei Kommissariate: 
Gesundheitswesen, Volksaufklärung und Arbeit beteiligt. Die neue 
Klinik hat sich folgende Aufgaben gestellt: Erstens, wissenschaft- 
liches Studium der Probleme der Berufspathologie und Berufs- 
hygiene; denn es ist einleuchtend, daß die. moderne Berufspathologie 
den Einfluß der Arbeitsverhältnisse auf die Entstehung, den Ver- 
lauf und den Ausgang aller Erkrankungen ohne Ausnahme, und 
nicht nur der spezifischen Berufskrankheiten zu studieren hat. 


Natürlich sind die Arbeitsverhältnisse aufs engste mit den 
Milieuverhältnissen (Ernährung, Wohnung, Mutterschaft usw.) ver- 
flochten, und es kann kein scharfer Trennungsstrich gezogen wer- 
den zwischen der Berufstherapie und der sozialen Therapie. Das 
Studium dieser und ähnlicher Fragen hat auch die praktische Be- 
deutung, daß die Aufgabe der Sowje’tmedizin, entsprechend ihrem 
prophylaktischen Grundsatz, nicht allein in der Behandlung deut- 
lich ausgeprägter Berufskrankheiten besteht, sondern auch in der 
Einleitung von vorbeugenden Maßnahmen gegen diese Erkran- 
kungen. So z. B. kann ein Setzer mit einer beginnenden Bleiver- 
giftung durch rechtzeitigen therapeutischen Eingriff oder durch 
die soziale Maßnahme seiner Versetzung nach einem andern, für 
ihn nicht schädlichen Betrieb, seine Arbeitsfähigkeit fürs ganze Leben 
erhalten und der Invalidität entgehen. Nicht so sehr in' der An-; 
heilung von Invaliden wie vielmehr in der Wiederherstellung der; 
beginnenden Stadien der Gleichgewichtsstörung zwischen dem 
'Organismus des Werktätigen und seinem Milieu besieht die Auf- 


Zur Reform des medizinischen Studiums 41 

gäbe der Sowjetmedizin. Durch die jährlich e Untersuchung der 
jugendlichen Arbeiter und die obligatorische ärztliche Untersuchung- 
der in gesundheitsschädlichen Betrieben beschäftigten Arbeiter 
haben wir bereits die Gestaltung des Medizinalwesens in diesem 
Sinne in Angriii genommen. 

In seiner Tätigkeit stützt sich der Lehrstuhl iür soziale Hygiene 
mit seinen Abzweigungen (Lehrstuhl für Erziehungs- und Arbeits- 
hygiene, Klinik und Poliklinik für soziale und Berufskrankheiten) 
auf das staatliche Institut für soziale Hygiene bei dem Volkskom- 
missariat für Gesundheitswesen. Die Entfaltung der iätigkeit auf 
dem Gebiete der sozialen Hygiene wird wesentlich dadurch ge- 
fördert, daß sie von den Gewerkschaften und den Arbeitsschutz- 
erganen lebhaft unterstützt wird. 


Zur Reform des medizinischen Studiums 

Zu der aktuellen Frage der Reform des medizinischen 
Studiums, zu der sich im „Soz. Arzt“ (März 1927) bereits, 
die Gen. Prof. Grotjahn und Max Ho dann geäußert 
haben, veröffentlichen wir nachstehend zwei weitere Ant- 
worten, die die Beachtung aller interessierten Kreise finden- 
dürften. • . D. Red. 

Dr. W. Hanauer, a. o. Professor für soziale Medizin: 

Obwohl nicht Sozialdemokrat, folge ich gern der Aufforde- 
rung der Redaktion, mich über die sozialmedizinische Ausbildung 
der Aerzte im Rahmen der geplanten Reform des medizinischen 
Studienpianes zu äußern. Ich halte mich für kompetent dazu nach 
einer fünfunazwanzigjährigen allgemeinen ärztlichen Tätigkeit, nach 
einer ebensolangen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der so- 
zialen Medizin und Hygiene, nach einer jahrelangen praktischen 
Betätigung auf diesen Gebieten und nach einer fünfzehnsemestrigen 
Lehrtätigkeit an der Frankfurter Universität. Ich möchte mich bei 
meinen Ausführungen allerdings vorwiegend auf die soziale 
Medizin beschränken. 

Was ist nun aber [soziale Medizin? Sie wird vielfach mit der 
s ozialen Hygiene konfun diert, ist aber, mit ihr nicht iden tisctu-Was- 
unter sozialer Hygiene zu verstehen ist, darüber ist endlich nach 
jahrelangen Diskussionen und langen Geburtswehen ungefähr eine 
Einigung erzielt. Soziale Hygiene ist zweifellos ein Zweig der 
Hygiene schlechthin, die nur mit anderen Methoden arbeitet als die 
experimentelle Hygiene, die aber schwer im einzelnen von ihrer 
Mutterwissenschaft zu trennen ist, und mit Recht wehren siph ja 
auch die Experimentalhygieniker gegen die Loslösung der 
sozialen Hygiene von der Hygiene. Die akademischen Vertreter 
der Hygiene beschäftigen sich in steigendem Maße mit sozial- 
hygienischen Fragen, und wir verdanken ihnen zahlreiche grund- 
legende Arbeiten. Ohne gründliche Kenntnisse auf dem Gebiete der- 


42 


Zur Reform des medizinischen Studiums 


experimentellen Hygiene und ohne daß er sich ständig über die Fort 

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Sozialhygieniker nie etwas Richtiges leisten können, und nur da- 
durch unterscheidet er sich von den Nichtärzten, die sich mit Vor- 
liebe ebenfalls mit sozial-hygienischen Fragen befassen und die 
Sozialhygiene in Gefahr bringen, daß sie zum Tummelplatz laien- 
hafter Spekulationen wird. 

Was ist nun aber die soziale Medizin? Daß sie doch etwas 
anderes sein muß als die soziale Hygiene ergibt sich unter anderem 
daraus, daß mir in Frankfurt die venia legendi für soziale Medizin 
erteilt wurde, einem anderen Herrn bald darauf ein Lehrauftrag für 
soziale Hygiene, und man legt Wert darauf, daß auch in der Ünter- 
richtstätigkeit eine reinliche Scheidung gewahrt werde. Schließlich 
muß sich die Frankfurter Fakultät etwas dabei gedacht haben, und 
ich muß mir selbst darüber klar geworden sein, was ich mir als 
Dozent unter sozialer Medizin vorstelle. 

I Bei der Definition der sozialen Medizin könnte man davon aus- 
gehen, daß die Medizin in erster Linie eine angewandte Natur- 
wissenschaft ist, die soziale Medizin demgegenüber zugleich Gesell- 
1 .Schaftswissenschaft, ferner daß die Tätigkeit des Arztes vorwiegend 
■eine therapeutische und individualistische ist; die Tätigkeit des Ver- 
treters der sozialen Medizin muß demnach anders geartet sein, sie 
‘ kann weder eine therapeutische noch individualistische sein. Wir 
möchten daher die soziale Medizin als eine Wissenschaft bezeichnen, 
bei der der imMittelpunkt stehende Arzt keineHeiltätigkeit ausübt und 
auch nicht auf das einzelne Individium einwirkt, sondern auf die 
Gesellschaft, und deren Aufgaben auf Grund neuer Sachkunde, die 
aber außerhalb der Therapie liegen, fördert. Solche Aufgaben sind 
unter anderem die Schule, Beruf, das.Versicherungswesen, der Sport 
usw. Die einschlägigen Wissenschaften sind vor allem die Hygiene 
und die gerichtliche Medizin, die man früher unter dem Begriff der 
Staatsarzneikunde zusammengefaßt hat, und die soziale Medizin 
würde demnach als Nachfolgerin der früheren Staatsarzneikunde zu 
betrachten sein. 

Die Einengung und die Identifizierung der sozialen Medizin mit 
der Unfallbegutachtung, die beim Aufkommen der Unfallversiche- 
rung maßgebend war und die heute noch in manchen Köpfen von 
Laien und Aerzten spuckt, lehnen wir natürlich ab. 

Wenn wir eben theoretisch auseinandersetzten, daß unter der 
sozialen Medizin die Hj^giene und die gerichtliche Medizin zu sub- 
summieren seien, so kann uns natürlich nicht in den Sinn kommen, 
aus dieser theoretischen Erwägung praktische Folgerungen ziehen 
zu wollen und zu verlangen, daß der Lehrer der sozialen Medizin 
Hygiene und gerichtliche Medizin doziere. Immerhin ist die soziale 
Medizin mit beiden Disziplinen verwandt, sie steht in der Mitte, eine 
ganz reinliche Scheidung ist schwer durchzuführen. 

Wir möchten die soziale Medizin als Lehre vom Arzt bezeich- 
nen, der nicht Heilarzt ist, sondern Sozialarzt und dessen Tätigkeit 


Zur Reform des medizinischen Studiums 


43 


so umfangreich geworden ist und noch ständig wird, daß sie wohl 
als* besondere Wissenschaft bezeichnet werden darf. Besitzen wir 
doch zwei Werke, weiche die Tätigkeit des Sozialarztes wissen- 
schaftlich darstellen; das eine ist die „AerztliChe Rechts- und Ge- 
setzeskunde“ von Rahmund-Dietrich, das andere „Das sozialärzt- 
iiche Praktikum“ von Gortstein-Tugendreich. Diese Wissenschaft 
vom Soziaiarzt ist heute auf den Universitäten so gut wie noch gar 
nicht vertreten. Denn wenn auch Vorlesungen darüber angekündigt 
und gehalten werden, so werden sie doch außerordentlich schlecht 
besucht, kommen oft gar nicht zustande. 

Wir können den jungen Medizinern auch gar nicht einmal 
darüber zürnen. Sie müssen zunächst die Pflichtvorlesungen be- 


suchen und die Fächer, in welchen im Examen geprüft wird, wenn 
diese auch noch so abstrackter Natur sind und Ihnen im Leben und 
der Praxis wenig nützen, wenn sie jedoch durch eine weise 
Prüfungsordnung zum Range von Examensfächern erhoben wurden. 
Allenfalls interessieren sie sich noch für ein Fach, wenn der Dozent. 


Examinator ist, wenn auch auf einem anderen Gebiet. Was Pro- 
fessor Ru mpf-Bo nn, der Nestor der deutschen Sozialmediziner-, der 
lQÖo'TTenlersten Lehrauftrag für soziale Medizin erhielt, erlebte, gilt 
auch heute noch: so lange er Examinator für innere Medizin war, 
waren auch seine Vorlesungen über soziale Medizin gut besucht. 
Das änderte sich aber mit einem Schlage, als er nicht mehr Exami- 


Hat Gi war • 

Der Nutzen der sozialen Medizin für die angehenden Aerzte 
liegt klar zu Tage, sie erweitert seinen Blick, eröffnet ihm Perspek- 
tiven in eine neue Welt, zeigt ihm die ungeheuren Zusammenhänge 
der Medizin mit dem gesamten Leben, unabhängig vom Labora- 
torium und Experiment, auf die er bisher allein eingestellt war. Die 
soziale Medizin kann auch für ihn wirtschaftlich von hoher Bedeu- 
tung werden, da ihre praktische Betätigung dem jungen Arzt neue 
Existenzmöglichkeiten bietet und ihn von der Konkurrenz der rein 
neilbefliessenen Kollegen befreit. Die soziale Medizin würde es 
demnach verdienen, daß sie als Pflichtvorlesung und examensfach 
behandelt wird, dies aber nur unter der Voraussetzung, daß durch 
vernünftige Gestaltung des medizinischen Lehrplans noch Auf- 
nahmefähigkeit dafür besteht und die physische und psychische 
Leistungsfähigkeit der Mediziner in höheren Semestern nicm noch 
weiter in ein unerträgliches Maß gesteigert wird. Solle sich dies 
nicht ermöglichen lassen, so müßte verlangt werden, daß die Me- 
dizinalpraktikanten eine gründliche Ausbildung in der sozialen Medi- 
zin erfahren und die Aushändigung der Approbationsurkunde von 
einem dementsprechenden Nachweis abhängig gemacht werde. 

Hertha und Walter Riese-Frankfurt a. M.: 

Wir werden auch mit der Ausführung von Vorschlägen zum 
sozialhygienischen und sozialmedizinischen Studium, wie sie hier 
folgen, nicht viel erreichen, wenn der Geist von seiten der leiten- 
den Stellen so antisozial bleibt wie bisher. 


44 


Zur Reform des medizinischen Studiums 


Unsere Autoritäten kommen fast ausnahmslos von einem mehr 
oder minder gesicherten Elternhaus in die Klinik und bleiben 'dort 
ihr Leben lang, in der Klinik sehen sie die Menschen, losgelöst von 
ihrem häuslichen Milieu, von der Weit ihrer Arbeit, ihres Leids und 
ihrer Entbehrungen, ohne die geringste Erfahrung und konkrete 
Vorstellung des unüberwindlichen Komplexes mangelnder Hygiene 
für Seele und Körper. — Es scheint uns aus diesem Grunde im 
Medizinstudium ein Unterricht zu fehlen, der statt die Patienten, 
aus ihrem Milieu herauszuholen in die objektive Welt der Klinik 
und Poliklinik und sie dort zu betrachten, sich im Milieu des Kranken, 
selbst abspielte. Berliner Studenten wurde, wenigstens vor dem 
Kriege in der Eranzschen Poliklinik als einziger, freiwillig annähernd 
eine solche Möglichkeit geboten. Wenn auch die Bedingungen der 
Klinik für den Kranken als viel günstiger angesehen werden müssen 
I als die trostlosen Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse im Heim 
| des Kranken, so gibt es einmal doch zahllose Kranke, die zu Hause 
1 behandelt werden müssen, wollen und können — diese eben müßten 
I aufgesucht werden, — ein anderes Mai muß man zu Ehren der 
| Aerzteschaft annehmen, daß, wenn die gesundheitswidrigen Ver- 
I hältnisse des Volkes allgemein und nicht nur der kleinen Gruppe 
machtloser Allgemeinpraktiker bekannt würden, die Hygiene nicht 
mehr nur auf die Kliniken beschränkt bliebe. 

Darin würden wir die wesentliche Bedeutung eines solchen 
soziainygienischen und sozialmedizinischen Unterrichtes erblicken, 
daß der Student, der werdende Arzt, der werdende Universitäts- 
professor die Welt der Armut sehen würden, wie sie ist. Auch der, 
dessen Gefühl nicht im geringsten aufbegehrte, würde sich rein 
sachlich von solchen hygienischen Ungeheuerlichkeiten überzeugen 
müssen, daß er wohl nicht mehr ruhigen Gewissens die Aufrecht- 
erhaltung dieser Zustände zulassen dürfte. Was würde wohl ein 
Hygieniker sagen, wenn er nach theoretischem Vortrag über Lüf- 
tung und Belichtung, Lebensbedingungen des Tuberkelbazillus; 
u. a: m. seine Studenten in die Wohnung des tuberkulösen Prole- 
tariers führte? Er könnte doch nur Beispiele zeigen, wie es nicht 


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Was würde wohl ein Internist nach seinen therapeutischen Be- 
lehrungen über Tuberkulose, Typhusbekämpfung u. a. m. seinen 
Studenten sagen, wenn er den tuberkulösen, hungernden, unbelich- 
teten Proletarier in unmöglicher Wohnungsenge aufsuchte und die- 
Klosettverhältnisse des Volkes zeigen müßte? 

Was würde der Paediater seinen Studenten sagen, wenn er 
Wohnungsenge, Lichtlosigkeit, Bettenmangel, Wäschemangel, Un- 
möglichkeit geeigneter Heizung und Ernährung zeigen müßte? 

Was sägte der Dermatologe, sähe er den Bettenmangel, den 
Mangel an Raum für Betten, das ausnahmslose Zusammenschlafen 
mehrerer Familienmitglieder in einem Bett bei geschlechtskranken 
Patienten? 

Wenn die unter richtenden Herren die vielen engen, beschwer- 

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Zur Reform des medizinischen Studiums 


45 


aus eigener Vorstellung erlernen, was es wohl für arme, hungrige, 
frierende, kranke, schwangere Menschen bedeutet, hinaufzusteigen, 
um oben angekommen, ruhelos weiterzuarbeiten. 

Es wäre nötig, den Hygieneunterricht durch Führungen in die 
.Stätten zu ergänzen, in denen Verhältnisse herrschen, aie jeder 
Hygiene spotten, d. h. in die Wohnung des Proletariers und in seine 
Arbeitsstätten. Ferner müßte die interne Medizin, besonders soweit 
es sich um Untersuchung Tuberkulöser und Besprechung der Thera- 
pie handelt, in den Wohnungen der Armen gelehrt werden. Ebenso 
die Kinderheilkunde, für die es von geradezu eminenter Bedeutung 
wäre, die Geburtshilfe, aber nicht wie es in der Franzschen Poli- 
klinik geschah, die die Leitung durch junge Volontäre vornehmen 
ließ, und schließlich die Nervenheilkunde, die dem Studenten nur 
.schwere Psychosen und organische Nervenkrankheiten zeigt. Be- 
ginnende Störungen, das riesige Gebiet seelischer Alterationen, die 
Neurosen, besonders die im Volke ungeheuer verbreiteten vegeta- 
tiven Neurosen und die äußeren Ursachen all dieser Erkrankungen 
bleiben unbekannt. Es wäre sicher nicht unberechtigt, tüchtige, 
kenntnisreiche, erfahrene und zum Unterricht befähigte Sozialärzte 
und Praktiker zum Unterricht heranzuziehen, weil sie die Verhält- 
nisse im Volke besser kennen. 

Mag aber die Kenntnis des sozialen Milieus für den Arzt, so- 
! lange er im rein naturwissenschaftlich-medizinischen seiner Denk- 
ä und Aktionsweise verbleibt, es sich also lediglich darum handelt, 
Veränderungen der Lebensvorgänge zu erkennen und behandeln, 
wenn auch nie unentbehrlich, so doch nicht von entscheidender Be- 
deutung sein, so kann er dieser Kenntnis ohne Gefahr für Wohl und 
'Wehe des Kranken nicht entraten in allen jenen Fällen, in welchen 
er gezwungen wird, durch se inen,, ärztlichen Spruch in das soziale 
Milieu seiner "Kranken gestaltend einzugreifen. Es sind im Grunde 
immer wieder die drei Bereiche der Frage der Zollrechnung,?- 
-fähigkeit, der Schwangerschaftsunterbrechung 
und der U n f a 1 1 b e g ut ach t u n g , die ihn, ob er will oder. nicht, 
mit außernaturwissenschaftlichen, allmenschlichen, soziologischen 
Tatbeständen konfrontieren. Ambeitet der ärztliche Gutachter in 
diesen drei Fällen schon an sich mit Voraussetzungen und Begriffen, 
die nichts weniger als klar und gesichert sind: so schwindet der 
letzte Rest einer unsicheren, nichts destoweniger imperativen 
Wissenschaftlichkeit, wenn der Rechtbrecher, die Schwangere, der 
Unfallverletzte nicht losgelöst von ihrem sozialen Hintergrund und 
.angeglichen an eine, mit Notwendigkeit nivellierende KliniKatmos- 
phäre, sondern aus ihrem s o z ialen Milieu heraus beur- 
teilt werden. Denn dann zeigt sich, daß die sogenannte freie 
Willensbestimmuhg in hohem Maße mitbestimmt wird durch alle, 
in der wirtschaftlichen Umwelt des Menschen liegenden Faktoren. 
Kat die Not einen Grad erreicht, welcher der Bedeutung einer bic.e- 
.gischen Katastrophe gleichkommt, so bleibt ja bekantlich von nöiei 
W illensbestiniiiiung ebensoviel bestehen wr_ uoi 


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46 


Hrbeitstherapie 


welches in der Not des Daseinskampfes keinen anderen Gesetzen 
mehr unterworfen ist als denen der Selbsterhaltung. Ein und 
dieselbe Krankheit, welche im auskömmlichen Milieu die Unter- 
brechung einer bestehenden Schwangerschaft nicht zuläßt, gebietet 
sie oft im proletarischen: denn daß Maß und Art der Nahrung, der 
Arbeit, der Unterkunft, Verlauf und Ausgang einer krankhaften 
Störung weitgehend zu beeinflussen vermögen, wird selbst derjenige 
nicht zu bezweifeln wagen, welcher den umgestaltenden und miß- 
staltenden Einflüssen der Außenwelt nicht gerade eine überragende 
Bedeutung zumessen will. Und der Unfallverletzte."' Nur aus ge- 
nauester Kenntnis seines engeren und weiteren wirtschaftlichen 
Milieus heraus, nur aus der Tatsache, daß eine monatliche Rente von 
20 Mark ein bedeutender Vermögenszuwachs sein kann, ist das ge- 
samte Problem der Rentenbegehrung zu verstehen. Und bedarf es 
nicht auch der Kenntnis aller jener, im sozialen Milieu des Ver- 
letzten liegenden Umstände, um die schwerwiegende, noch gar nicht 
erörterte Frage zu beantworten: ob diese Umstände gegebenenfalls 
nicht von solcher Gewalt sein können, daß sie den Arbeitenden über- 
haupt erst Unfall fähig machen ? 

; Darum muß der heranwachsende Arzt hinein in die Wohnungen 
des Proletariats, in die Stätten der Arbeit, um diejenigen Dinge zu 
lernen, deren er vielleicht bei seiner verantwortungsvollen Tätig- 
keit mehr bedarf, als der Kenntnis der Senkungsgeschwindigkeit der 
roten Blutkörperchen. 


Ärbeitstherapie 

Von Paul L e v y 

Die Tatsache, daß ein Laie in einer ärztlichen Zeitschrift über 
eine Heilmethode schreibt, kann den Anschein erwecken, als wenn 
es sich um Ausführungen eines „Kurpfuschers“ handelt. Deswegen 
sei gleich im voraus bemerkt, daß ich weit davon entfernt bin, mir 
ein Urteil über die Wirkungen dieser Heilmethode vom ärztlichen 
Standpunkt aus zu erlauben. Ob die Arbeitstherapie geeignet ist, 
den geistigen Zerfall der Kranken aufzuhalten oder ob sie - gar als 
Heilmittel in Frage kommt, kann und soll lediglich . der Arzt ent- 
scheiden. Meine Aufgabe ist es, die Arbeitstherapie vom sozial- 
politischen, wirtschaftspolitischen, hygienischen und vom rein 
menschlichen Gesichtspunkt aus zu beleuchten. 

Die Arbeitstherapie ist nichts Neues. Schon Ueberlieferungen 
aus der Zeit des Mittelalters — aus der Zeit also, in der man im 
allgemeinen Geisteskranke durch Anwendung von Gewalt „bessern 
wollte — zeugen davon, daß zu den damaligen Zwangsmaßnahmen 
auch das Verrichten von Arbeiten gehörte. Seitdem man eine- 
moderne Irrenpflege hat, versucht man, die Kranken dadurch von 
ihren Wahnideen abzulenkcn, daß man sie arbeiten laßt. Vor u^er 
20 Jahren hatte ich selbst Gelegenheit, die Aufsicht in Werkstätten, 
in denen GeisieskranKe oeschaftifit waren, zu innrer,. icn eiis-Süiiie- 


Arbeitstherapie 


47 


mich auch, daß etwa um das Jahr 1910 herum. die Arbeits- oder Be- 
schäftigungstheraoie — de r Name spielt gar keine Rolle in den 
Hintergrund gedrängt und durch fast allgemein verordnete Bett- 
ruhe ersetzt wurde. Erst vor einigen Jahren ist mar. dazu uoer- 
gegangen, die sogenannte erhöhte Arbeitstherapie zur . Durch- 
führung zu bringen. Die Wiege dieser erhöhten Heilmethode stand 
in der Heil- und Pf i e g e a n s t a 1 1 Gütersloh. Im Nach- 
stehenden soll geschildert werden, welche Gefahren sie im uefolge 
hat, und zwar nicht auf Grund theoretischer Erwägungen oder 
unter Zugrundelegung von Berichten derjenigen Anstaltsdirektoren, 
imvpnUi.nor Her Arbeitstherapie ein Verdienst er- 
werben zu müssen glauben, sondern auf Grund eigener eingehendei 
Studien Die Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der 
Gemeinde- und Staatsarbeiter hielt.es für notwendig, 
eine Studienkommission in die verschiedensten Anstalten des Rnein- 
iandes, Westfalens, Bayerns, Württembergs, Badens und der 
Rheinpfalz zu entsenden. Die Studienkommission hatte die Mög- 
lichkeit, sich vorher mit den Kollegen der betreffenden Anstalten 
in Verbindung zu setzen, konnte also ganz bestimmte Abteilungen 
in Augenschein nehmen, an denen man sie sonst — wie das bei 
vielen anderen geschehen ist — vorbeigeführt hätte. 

Die Anstalt Gütersloh ist deswegen berühmt geworden, weii 
der Direkter dieser Anstalt, Dr. Simon, in der Oeffentlichkeit die 
Behauptung aufgestellt hat, daß in seinem Betriebe 99 Prozent aller 
Geisteskranken beschäftigt werden. Was meistens nicht bekannt 
gemacht wird, ist jedoch die Tatsache, daß sich m dieser Ans a 
weder Kriminelle noch Epileptiker befinden, daß sich also schon 
das Krankenmaterial ganz wesentlich von dem anderer Anstalten 
unterscheidet. Dazu kommt, daß bei der Berechnung dieser omi- 
nösen 99 Proz. nur diejenigen Kranken mitgezählt werden, die 
wenigstens eine teilweise Arbeitsfähigkeit besitzen, wahrend man 
die Siechen, die dauernd Bettlägerigen und ähnliche, bei der Sta- 
tistik außer Ansatz läßt. Nichtsdestoweniger hat innerhalb vieler 
Anstalten Deutschlands und neuerdings auch in der Schweiz ein 
Wettrennen eingesetzt, um möglichst an die 99 Proz. von Guters- 
. loh heranzukommen. Bezeichnend ist folgender Vorfall. Lnsere 
.Stadienkommission benutzte die Gelegenheit, m -er. versc. i 
sten Anstalten Versammlungen abzuhalten, m einer _J ieser ' 
Sammlungen wurde vom Personal mitgeteilt, dau uer Direktor a , 
Nachmittag desselben Tages das Pflegepersonal zusammenberufen 
und in anerkennender Weise ausgeführt habe daß es möglich ge- 
wesen sei, die Beschäftigungszahl um 3 auf 87 P/oz. zu erhöhen. 
Am nächsten Tage hatten wir eine Versammlung in ein« r oenach- 
barten Anstalt, in der ebenfalls der Direktor am selben Tage das 
o,— „i »..oommomKertifen hatte und sein Mißfallen darüber aus 

X eine . Beschäft^ten-h. von 87 Pro, 

erreicht sei, während man es in seiner Ans— au 


48 


Arbeitstherapie 


bracht habe. Er gab der Hoffnung Ausdruck, daß sich das Pflege- 
personal mehr Mühe geben werde, um möglichst schon in der näch- 
sten Woche ebenfalls die 87 Proz. zu erreichen. Der Arzt einer 
sächsischen Anstalt ist sogar soweit gegangen, die Ausdehnung 
der Arbeitstherapie auf Hospitäler (Siechenhäuser) und auch auf 
Krankenhäuser zu verlangen. Er äußerte sich dahingehend, daß 
Deutschland so arm geworden sei, daß alle produktiven Kräfte 
ausgenützt und daß außerdem die. in den Krankenhäusern befind- 
lichen Rekonvaleszenten langsam wieder an die Arbeit gewöhnt 
werden müßten. Das sind Auswüchse, die mit den ernsten Be- 
strebungen des Wissenschaftlers, kranken Menschen helfen zu 
wollen, nichts gemein haben. Sie sind ein Beweis dafür, daß auch 
Aerzte in ihren Bestrebungen, etwas Neues : etwas noch nie Da- 
gewesenes zu schaffen, gelegentlich über das Ziel hinausschießen. 
Zu solchen Auswüchsen gehört auch die Schaffung sogenannter 
pflegerloser Abteilungen, wie das in der Anstalt H i 1 d e s h e i m 
bei Hannover der Fall ist. Etwa 30 Proz. aller in der Anstalt 
untergebrachten Geisteskranken befinden sich auf solchen Abtei- 
lungen, die vollständig des Pflegepersonals entblößt sind, so daß 
also tatsächlich Geisteskranke von Geisteskranken gepflegt werden. 
Während der Direktor dieser Anstalt, Dr. Mönkemöller, behauptet, 
daß diese pflegerlosen Abteilungen sich geradezu glänzend be- 
währen und daß keinerlei Vorkommnisse ernsterer Art zu ver- 
zeichnen seien, ergibt sich aus dem Bericht eines dort beschäftigt 
gewesenen Arztes — der Bericht liegt im Druck vor — , daß man 
peinlich bemüht ist, auch die schwersten Unfälle als harmlos hin- 
zustellen. So hat z. B. ein als Kegeljunge fungierender Kranker 
einem vorbeistolpernden, stumpfen Altersschwachsinnigen mit 
einem Kegel den Schädel eingeschlagen. Ein in der Schuhmacherei 
beschäftigter Geisteskranker versetzte einem anderen mit einem 
Schustermesser einen Stich in den Hals, der unmittelbar neben der 
Schlagader eindrang. Er selbst — der Arzt — habe von einem 
Kranken einen derartig starken Schlag gegen die Schläfe bekom- 
men, daß er zu Boden stürzte. In den letzten Woohen ist uns aus 
dieser Anstalt ein Bericht zugegangen, der besagt, daß sich am 
10. Juni d. Js. eine Kranke auf einer solchen pflegerlosen Abteilung 
in einem Badezimmer einschloß und den Schlüssel von innen stek- 
ken ließ. Sie war nicht dazu zu bewegen, die. Badestube zu öffnen, 
so daß die Tür mit einem Beil eingeschlagen werden mußte. Die 
Kranke lag in fast kochend heißem Wasser und ist so stark ver- 
brüht, daß an ihrem Aufkommen gezweifelt werden muß. Am sel- 
ben Tage ließ eine Kranke die ihr anvertrauten Schlüssel im Kran- 
kensaal liegen, eine andere Kranke eignete sich die Schlüssel an 
und ließ eine Reihe von Patienten hinaus. Ein Alkoholiker, ein sehr 
unruhiger Kranker, der am Tage zwei- bis dreimal Beruhigungs- 
xaittel haben muß. führt eine solche oflegerlo.se Station. Am 17. Juni 
dieses Jahres wurde dieser Leiter der Station so unruhig, daß er 


Arbeitstherapie 


49 


in einen Wachsaal verlegt werden mußte. Daß sich bei dieser Ge* 
iegenheit kein Unglück ereignet hat, ist einem glücklichen Zufall 
zuzüschreiben. Am ausgeprägtesten finden wir die Arbeitstherapie 
in der größten Anstalt Deutschlands, nämlich Bedburg-Hau. 
Am ausgeprägtesten nicht deshalb, weil hier etwa die 99 Proz. von 
Gütersloh erreicht wären, sondern deshalb, weil die Art der Be- 
schäftigung am mannigfaltigsten ist. Bedburg-Hau ist 217 Hektar 
groß, die Zahl der Gebäude beträgt 108, es sind 2600 Kranke darin 
untergebracht und rund 500 Personen beschäftigt. Daß es außer- 
ordentlich schwierig ist, für eine so große Anzahl von Menschen 
passende Beschäftigung zu finden, ist selbstverständlich und geht 
besonders daraus hervor, daß man auf der Frauenabteilung dieser 
Anstalt in 8 Tagen 5 km Schürzenstoff verarbeitet hat. Man geht 
nun nicht etwa von der einzig richtigen Erwägung aus, daß die Be- 
schäftigung nur den Zweck haben darf, den Zustand des. 
Kranken zu bessern, sondern man gibt ganz offen zu, daß 
die Beschäftigung gleichzeitig auch die Renta- 
bilität de sBetriebessteigern soll. Wäre das erstere der 
Fall, so müßte man die heute mit Recht so sehr gepriesene Körper- 
gymnastik betreiben. Man müßte Geisteskranken Luft, Licht und 
Sonne spenden und im übrigen ihren individuellen Neigungen in der 
Weise Rechnung tragen, daß man sie musizieren und ähnliche Dinge- 
treiben ließe. Da aber das letztere — die Steigerung der Renta- 
bilität des Betriebes durch die Beschäftigung — anscheinend die 
Hauptsache ist, hat man innerhalb der Anstalten große industrielle- 
U ntemehmungen ins Leben gerufen. Ein einziges Beispiel soll 
das charakterisieren. 

Eine in der Nähe der Anstalt befindliche Kartonagenfabrik 
hat der Anstalt die Einrichtung einer Kartonagenfabrik zur Ver- 
fügung gestellt, in der täglich etwa 10 000 Schuh-, Seifen- und 
Schokoiadenkartons von Geisteskranken fabriziert werden. Die- 
Firma selbst kann ihre eigenen Arbeiter nicht voll beschäftigen; 
diese arbeiten nur drei Tage in der Woche, während die Geistes- 
kranken vor morgens bis abends Kartons herstellen. Dabei handelt 
es sich nicht um einfache Pappkartons, sondern um solche, die mit 
bedrucktem Papier, das ebenfalls in der Anstalt von Geisteskranken 
bedruckt wird, überzogen sind. Es würde zu weit rühren, an dieser 
Stelle all die übrigen Fabrikationen gewerblicher Produkte im ein- 
zelnen wiedergeben und schildern zu wollen, ris mag genügen, daß 
a. a. neben einer Möbeltischlerei eine Zementproduktenfabrik, 
eine Buchdruckerei und anderes vorhanden ist. In dieser und in 
fast allen übrigen Anstalten konnten wir die Beobachtung machen, 
daß der Küchenbetrieb fast vollständig von Geisteskranken aufrecht- 
erhalten wird. ■ Jeder objektive Beurteiler wird zugeben müssen — 
insbesondere, wenn er die Eigenarten Geisteskranker kennt — , daß 
das vom hygienischen Standpunkt aus betrachtet zum mindesten 
nicht einwandfrei ist. Dieselben Bedenken sind aucn gegen nie: 


50 


Arbeitstherapie 


Fabrikation von Schokoiadenkartons und das in fast allen Anstal- 
ten geübte Tütenkleben vorhanden. 

Beim Bau dieser Anstalten hat man natürlich auf die erhöhte 
Arbeitstherapie keine Rücksicht nehmen können, so daß man jetzt 
gezwungen ist, die Werkstätten, z. B. die Korbflechtereien, in 
dumpfe, muffige Kellerräume zu verlegen. Das Tabakentrippen — 
auch eine beliebte Beschäftigungsart — wird in Bodenräumen vor- 
genommen, und zwar haben wir solche Arbeitsräume gesehen, in 
denen 30 und mehr Kranke zusammengepfercht in einer von Tabak- 
staub geschwängerten Luft während des ganzen Tages arbeiten 
mußten. Jedes Privatunternehmen würde sich in diesem Falle 
wegen Verstoß gegen die gewerbepoiizeilichen Vorschriften straf- 
bar machen. Aber auch vom sozialpolitischen Standpunkt aus 
müssen schwerste Bedenken auftauchen. Die Kranken arbeiten 
vielfach an Maschinen — zum Teil elektrisch betriebenen Ma- 
schinen—; alle aber arbeiten mit Werkzeugen (Messer, Stemm- 
eisen, Scheren, Hämmer etc.). Das Personal führt in diesen Werk- 
stätten nicht nur die Aufsicht, sondern muß ebenfalls und zwar 
vorbildlich, a. h. in Bezug auf die Quantität, an aiien möglichen 
Maschinen mitarbeiten. Ganz abgesehen davon, daß diese Art der 
Doppelbeschäftigung — nämlich Beaufsichtigen der mit Mord- 
instrumenten ausgestatteten Kranken und Verrichtung gewerb- 
licher Arbeit — geradezu derangieicnd auf den körperlichen und 
seelischen Zustand des Personals wirken muß, ist dies, da es sich 
ja hier nicht um die Verrichtung gewerblicher' Arbeiten, sondern 
um eine Heilmethode handelt, nicht gegen Unfall versichert. 
Dasselbe bezieht sich auch auf die Kranken. Die Reichsversiche- 
rungsordnung sagt in ihrem ersten Abschnitt (Umfang der Ver- 
sicherung, § 544): „Geisteskranke Pfleglinge können nicht als Ar- 
beiter gelten, weil sie wegen geistiger Mängel ein Arbeitsverhält- 
nis überhaupt nicht eingehen können. Ob die Beschäftigung, inner- 
halb oder außerhalb der Anstalt stattfindet, ist bei ihnen unerheb- 
lich.“ Man kann, wie das bezeichnenderweise tatsächlich ge- 
schehen ist, den Standpunkt einnehmen, daß es sich um Geistes- 
kranke handle und daß deswegen der Schutz ihrer Arbeitskraft 
nicht notwendig sei. Wie falsch eine solche Auffassung ist, geht 
daraus hervor, daß in den letzten fünf Jahren in der Anstalt Bed- 
burg-Hau bei einer Belegungsstärke von 2600 über 7000 Aufnahmen 
gemacht worden sind; die Fluktuation ist also eine fast dreifache.. 
Wenn auch in Rechnung gestellt werden muß, daß in solchen An- 
stalten viele Patienten durch Tod abgehen, so muß doch zugegeben 
werden, daß ein ganz erheblicher Teil dem Erwerbsleben zurück- 
gegeben worden ist. Bei dem Fortschreiten wirklich wissenschaft- 
licher Heilmethoden, z. B. der Malariabehandlung bei progressiver 
Paralyse, muß man die Notwendigkeit zugeben, daß die Arbeits- 
kraft auch der Geisteskranken unter allen Umständen geschützt 


Arbeitstherapie 


51 


werden muß, weil die Zahl derjenigen, die in das Erwerbsleben zu- 
rückkehren, ständig im Steigen begriffen ist. 

Die Art, die Kranken zur Teilnahme an der Arbeit zu bewegen, 
ist in der» Anstalten sehr verschieden. In Bedburg-Hau stellt man 
beispielsweise den anscheinend völlig stupiden Geisteskranken ne- 
ben einen solchen, der sich betätigt. Hier bleibt er tage- eventuell 
wochenlang stehen, bis er eines schönen Tages ganz von selbst mit 
züfaßt und dann in den Arbeitsprozeß eingereiht wird. Diese Art, 
den Kranken zur Mitarbeit zu veranlassen, hat etwas Sympa- 
thisches. Ganz anders ist es z. B. in Gütersloh. Hier erhalten die- 
jenigen Kranken, die sich an der Arbeit beteiligen, besondere 
Beköstigungszulagen, wie das übrigens auch in vielen 
anderen Anstalten üblich ist, während bei denjenigen, die sich wei- 
gern, an der Arbeit teilzunehmen, ein Abzug von der regulären Be- 
köstigung gemacht wird. Wenn schon darüber gestritten werden 
kann, ob die Gewährung besonderer Beköstigungszulagen ange- 
bracht erscheint, muß der Beköstigungsabzug auf das entschiedenste 
verurteilt werden. Solche Zwangsmaßnahmen können nicht dazu 
dienen, den Gesundheitszustand des Geisteskranken zu heben. Um 
das beurteilen zu können, braucht man nicht unbedingt Arzt zu 
sein; auf jeden fall wirkt derartiges erbitternd und damit schädi- 
gend. Die Relichssektion hat unter Berücksichtigung all dieser 
Tatsachen folgende Entschließung angenommen: 


Die 5tudienkommission spricht sich für eine zweckmäßige Beschäfti- 
gung der Geisteskranken aüs, soweit dieselbe geeignet ist, den völligen 
geistigen Zerfall der Kranken aufzuhalten oder als Heilmittel in Frage 
kommt. Sie knüpft aber daran folgende Bedingungen: 

1 . Verbot der Herstellung industrieller Produkte, soweit sie nicht dem 
Eigenbedarf der Anstalten dienen. 

2. Gewährung bestimmter Garantien für Kranke und Personal bei 
Betriebsunfällen im Mindestausmaß der reichsgesetzlichen Unfall- 
versicherung. 

3. Unterlassung jeder Strafe für Kranke, die nicht freiwillig an der 
Arbeit teilnehmen. 

4. Vermehrung des Personals zum Zwecke der Erreichung größerer 
Sicherheit. 

5. Keine Verwendung von Kranken bei Zubereitung oder Herstellung 
von Lebensmitteln. 

6. Festsetzung einer Arbeitszeit, die den erhöhten Anforderungen, die an 
das Personal gestellt werden, Rechnung trägt. 

ihre Bestrebungeil sinu nicht ganz ohne Erfolg geblieben, 
kann heute, nachdem „Die Sanitätswarte“, das Organ der Reichs- 
sektion Gesundheitswesen, erstmalig auf die Gefahren der er- 
höhten Arbeitstherapie hingewiesen hat, kaum mehr eine ärztliche 
Zeitschrift oder eine Zeitschrift für Pflegepersonal in die Hand neh- 
men, ohne ausführliche Abhandlungen über die Arbeitstherapie 
darin zu finden. Natürlich gehen die Meinungen auseinander. Den 
meisten fachwissenschaftlichen Zeitungen ist es Grund genug, sich 
für die erhöhte Arbeitstherapie auszusprechen, ohne auf ihre Ge- 



■V- •: ' 

52 Nochmals .Kritische Bemerkungen zur Gesolei“ (November-Heft 1926} 

fahren aufmerksam zu machen und sie zu bekämpfen, weil die ein- 
zige freigewerkschaftliche Organisation — die Reichssektion Ge- 
sundheitswesen — das Gegenteil tut. Die Anzahl der Aerzte, die 
vor Uebertreibungen warnen, ist trotzdem im Steigen begriffen. Der 
Verein sozialistischer Aerzte wird es als seine Auf- 
gabe -betrachten müssen, gemeinsam mit dieser frei- 
gewerkschaftlichen Vereinigung des Pflege- 
personals Gefahren zu begegnen. Unsere gemeinsame Aufgabe 
ist es, die Kranken und das Personal vor Ausbeutung zu schützen, 
und ihre sozialen Interessen zu wahren. 


Nochmals „Kritische Bemerkungen zur Gesolei“ (Nov.-Heft 1926).. 

Nachstehender Brief des Kollegen Vogel vom Deutschen. 
Hygienemuseum ging mir zu, den ich im Wortlaut veröffentliche:. 

„Sehr geehrter Herr Kollege! 

In Nr. 2/3 des Soz. Arzt.“ vom November 1926 haben Sie kritische 
Bemerkungen zur Gesolei veröffentlicht, zu denen Stellung zu nehmen ich. 
mich für verpflichtet halte, weil ich selbst bei den Vorbereitungen und beim 
Aufbau der Gesolei wesentlich beteiligt gewesen bin. 

t u scharfen Kritik muß ich großenteils leider selbst nur zustimmen. 
■ ux j ^ ie £inwände genau wie Sie vorgebi:acht, habe aber 

nicht den nötigen Einfluß gehabt, um mich damit durchzusetzen. Ir» 
einigen Punkten sind Sie aber im Irrtum, und gerade darauf möchte ich 
Sie aufmerksam machen. 

. „ ^ lS * es ganz bestimmt keine „hochwohlweise Berechnung“ gewesen 
daß die Abteüung „Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene“, in der auch 
der Bund der Kinderreichen mit ausgestellt hatte, ungünstig zu liegen ge- 
Kommen ist. Da ich als Vertreter des Deutschen Hygienemuseums, das. 
mese Gruppe gestellt hatte, in Düsseldorf war, können Sie mir glauben, 
daß ich den bestmöglichen Platz dafür zu gewinnen versucht habe. Die 
Raume waren aber auf der einen Seite so unglücklich angeordnet, auf der 
anderen Seite war es so schwierig, eine einigermaßen vernünftige Ein- 
teilung zu linuen, aau unvermeidlich das eine oder das andere zu kurz kam. 

Im Irrtum sind Sie auch damit, daß die „sehr, peinlichen Plakate“ Ende 
Juni noch nicht »ertig aufgehängt gewesen wären. Der einfache Grund 
dafür war daß die Wände dieses neu errichteten Gebäudes teils so naß 
s ?’ hängen bleiben konnten, ohne schweren 

^Cx.aden zu leiden. Efeshalb habe ich selbst den Aufsehern Anweisung 
geben müssen, die Bilder von Zeit zu Zeit abzunehmen und sogar um- 
zudrehen, um aas auigesaugte Wasser wieder abdünsten zu lassen. 

Ferner sind Sie -darüber im Irrtum, was Sie über die Darstellung „Die 
Ursachen der sr>z<-re n Not“ /c c-- j» 

i'r- — v . . “-ye.^Cii vo. ~t,. o»e uemangein, aau die. 

Um da. aus denn .ranne 1885 stammen. Ich habe gerade bei dieser 
Abteilung wesentlich mitgewirkt und kann Ihnen versichern, daß auch hier 
nicht die geringste Versdileierungstendenz Vorgelegen hat und daß wir 
besonders^ Herr Dr. Schoppen, Direktor des Statistischen Amtes der Stadt 
Düsseldorf, sehr gern zahlen aus der Gegenwart genommen hätten, wenn 
brauchbar gewesen wären. Sie wissen ja doch selbst, daß 

6 v, aer n‘r u - on - i d : Cr Prei3e fur Lebensmittel großenteils gar nicht die 

wirtiji.ne V/jrtschaftslage wiaersciegelten. wenn mut t CID oirvfa r* H na’hon_ 

einander setzt, denn wir haben doch in der Inflation nach d7mTinidpreis 


I 


Nochmals „Kritische Bemerkungen zur Gcsolei* (November- Heft 1926) 53 


gerechnet, lächerlich billig: jrelebi und dabei doch sehr viel Not gehabt. 
Ebenso haben wir auch über die Lebensmittelzölle nicht genügend 
Material, das hieb- und stichfest wäre. Es ist deshalb ein Notbehelf ge- 
wesen, wenn wir aut altere, sichere Zahlen zurückgegriffen haben. Da 
die ganze Gruppe nur der, Sinn haben sollte und konnte, die Ursachen 
für die Not in der Gegenwart aufiuzeigen, könnten wir ebensogut behaup- 
ten, daß Ihre Ausführungen „entweder lächerlich oder unverschämt“ sind. 
Daß die Arbeitslosen an anderen und zwar verschiedenen. Stellen der Aus- 
stellung sehr ausführlich behandelt worden sind, ist ihnen wohi ent- 
gangen. 


Ich bin der Letzte, wie bereits betont, der die schweren Mängel der 
Gesolei nicht anerkennen würde, ich habe sie sogar Monate hindurch 
täglich schmerzlich empfunden, -weil ich immer mit den Dingen in un- 
mittelbarer Berührung stand. Sie tun aber unrecht, wenn Sie hinter allem 
Gesinnungen suchen, die man nicht anders als gemein bezeichnen kann, Sie 
tun insbesondere unrecht Frau Regierungsrat Kall, von der Sie wohi wis- 
sen, daß sie der sozialdemokratischen Partei angehört und daß sie gerade 
für die Abteilung Soziale Fürsorge maßgebend gewesen ist, zusammen mit 
Herrn Dr. Scbapnacher, dem ebenfalls nur der Vorwürfe dieser Art 
machen könnte, der ihn nicht kennt. 


Ich hoffe, daß Sie selbst in Ihrer Zeitschrift eine entsprechende Rich- 
tigstellung bringen werden. 


Mit vorzüglicher Hochachtung 

ergebenst Dr. Vogel, Direktor. 


Es freut mich, daß Kollege Vogel der Kritik „großenteils selbst“ 
zustimmt. Da er versucht hat, die unhaltbaren Zustände zu ändern, 
triff i ihn die Kritik am wenigsten. 

Zu den Einzelheiten: Daß die Wahl der Räumlichkeiten nicht 
vom Kollegen Vogel abhing, glaube ich gern. Das Alkoiiolkapital 
ist eben stärker als das Hygienemuseum. 

Das unfertige Aussehen der bevölkerungspolitischen Abteilung 
wird uns durch physikalische Gründe erklärt. Unerklärt bleibt in- 
dessen, warum man diese sozial so enorm wichtigen Darstellungen 
in einer Ecke des Gebäudes untergebracht hat, wo sie von den 
meisten Besuchern übersehen werden mußten. 

Was schließlich die Ursachen der sozialen Not angeht — es 
bieiuL dabei, die Statistik stammt von 1885. Wie wäre es gewesen, 
wenn bei den riesigen Vorbereitungskosten der Ausstellung ad hoc 
eine statistische Erhebung gemacht worden wäre? Ich glaube, es 
wäre genug „hieb- und stichfestes“ Material zusammengekommen, 
aas auf die Gegenwart Bezug gehabt hätte. Wir nehmen Kenntnis 
von dem guten Willen der Bearbeiter der wissenschaftlichen Ab- 
teilungen. Der Vorwurf einer Mitbeteiligung an der riesigen Irre- 
führung des Publikums, die diese Ausstellung verursacht und — ich 
bleibe dabei — gewollt hat, kann bei ihnen nur gemildert werden 
durch das Zugeständnis ihrer Naivität in politischen Dingen, einer 
Naivität, die sie glauben ließ, sie könnten im Bunde mit dem Groß- 
kapital wirklich Ernsthaftes für die Volksgesundheit leisten. Wenn 
sie in Zukunft von dieser Naivität geheilt sind, hat die Ausstellung 
am Ende doch noch einen ur. '/erhoffen Erfolg gehabt. 

Max Hodann. 


Rundschau 



Rundschau 


Die Wiener Polizei gegen das Sanitätspersonal. 

Bei den Wiener Unruhen hat die Polizei sich schwere Über- 
griffe gegenüber den demonstrierenden Volksmassen zuschulden 
kommen lassen. Aber sie machte auch nicht einmal Halt vor den 
Ärzten und Sanitätern, die aufopfernden Dienst zur Pflege der Ver- 
wundeten leisteten. Wir entnehmen der Wiener „Arbeiter- 
zeitung“ die folgende Schilderung: 

„Schon kurze Zeit nach Beginn der ersten Zusammenstöße wurden 
nicht’ mehr vorwiegend Leichtverletzte, sondern hauptsächlich Demon- 
stranten mit schweren inneren Verletzungen und gefährlichen Schußwun- 
den an den Armen und Beinen eingebracht. Es mußte meist sofort operiert 
werden wenn das Leben des Verletzten gerettet werden sollte. Viele 
Stunden lang operierten ohne Pause die Professoren Eiseisberg und 
ßudinger mit allen Assistenten. Auch die Aerzte, die auf Urlaub waren, 
hatten sich, soweit sie in Wien waren, schon auf die ersten Nachrichten 
von der Katastrophe hin in ihren Abteilungen zum Dienst gemeldet. — — 
ln wenigen Stunden waren fast alle dienstfreien Krankenschwestern, fast 
alle dienstfreien Pfleger und Arbeiter eingerückt. 

Beim Eingang des Spitals sammelten sich sehr bald ungeheuer , viel 
Menschen an, die kamen, um schon jetzt nach Verletzen und Vermißten 
zu suchen. Diese Menge war natürlich in furchtbarer Erregung und es 
war sehr schwer, hier Ordnung zu machen. Nach wenigen Minuten er-, 
wies es sich, daß die Polizisten, die vor dem Tor standen, dieser Aufgabe 
nicht gewachsen waren. Sie zogen ab und nun übernahmen die- ohnedies 
schon so sehr belasteten Arbeiter und Angestellten des Spitals auch 

diesen Dienst. , _ . , ,. ., 

So ging es, bis nachmittags die tollgewordene Polizei auf die Idee ver- 
fiel auch die zum Ring führenden Straßen zu „säubern“. Eine Abteilung 
stürmte, Karabiner in Händen, auch die Alserstraße hinauf, die Menschen 
in wilder Flucht vor sich hertreibend. Als sie zum Allgemeinen KranKen- 
haus gekommen waren, machten sie auf einmai iiait und .wendeten sicn 
gegen die Ordnerkette der Aerzte, Angestellten und Arbeiter, die den 
Eingang des Spitals schützten. Sie richteten die Karabiner gegen die Ord- 
ner und verlangten, daß sie sich augenblicklich in das uebaude zuruck- 
ziehen sollten. Als man erwiderte, daß hier doch ein wichtiger und un- 
erläßlicher Ordnungsdienst' verrichtet werde, antwortete der Waclieam- 
zier - Das ist uns ganz gleich, für uns sind Sie nur Passanten, uehert 
Sie sonst schießen " wir!“ Die Ordner mußten nun tatsächlich ihren 
Porter, im Stich lassen und das Tor versperren. — Als die Aerzte und 
Beamten nicht sofort von der Stelle wichen, trat einer der Polizisten vor 
u-.id versetzte einem Arzt einen Kolbenschlag auf den Schädel. 

Einer der Aerzte, die seit Freitag in den chirurgischen Abteilungen des 
Krankenhauses Dienst machen, teilt uns mit, daß die meisten Wunden 
Schuß Verletzungen fliehender Menschen sind. Die weitaus größte Zahl aer 
Schüsse sind Rückenschüsse. Auffallend sind die furchbar großen tin- 
und Äusschußöfinungen. Die Aerzte versichern, daß sie solche wunden 
nie gesehen haben. Man siebt sie nur bei Verletzungen die durch Dum- 
dumgeschosse herbeigeführt werden. Wo ein Schuß den Knochen erat, sind 
immer Zersplitterungen erfolgt, die oft zur Amputation des getronenen 
Gliedes zwingen. Die Verletzungen sind deshalb viel schweren als sie 
es irr Kriege waren, weil sie fast alle infiziert wurden. Die Patienten, 
auch die mit leichten Verletzungen, wurden mit hohem Fieber eingeliefert. 
Es sind auch einige Fälle von Infektionen mit Gasbrandbazillen . vor- 
gekommen, die lebensgefährlich sind. Die Verwundeten mit Bauchschüssen 
tv»ft*jde n sich alle in größter Geiahr. 

Von Sanitätsgehilfen wird berichtet: Der Sanitätshilfsplatz im Stadt- 


Rundschau 


55 


schulrat füllte sich arr. Freitag mit den Opfern der Gewehrsalven; furcht- 
bar zerfetzte Menschenkörper wurden gebracht. Einer Frau hatte ein 
Schuß den Schädel zertrümmert, einem Mann waren beide Beine' ver- 
stümmelt, einem andern war der Bauch aufgerissen worden. Man glaubte 
zuerst, daß Geilerschüsse so schrecklich gewirkt hatten. Bald aber konnte 
man konstatieren, daß die Polizei Dumdumgeschosse verwendet hatte. 

Die .Sanitätsmannschaft, die immer wieder auf die Straße eilte, um die- 
Verwundeten hereinzubringen, erzählt über das Vorgehen dei Polizei 
Dinge die mar. nicht für möglich gehalten hätte, hätte man niene uie zer- 
fetzten Opfer dieser Bestialität mit eigenen Augen gesehen. Selbst auf 
Verwundete wurde geschossen. £in Mann, -der mit zerschossenem Bein 
auf der Straße liegen blieb, erhieit noch vier Schüsse, davon einen, der 
seinen Kopf zertrümmerte und ihn tötete.“ 

Höfle und Kutisker! 

Das was interessiert, wodurch der Fall Kutisker sich vom 
Fall Höfle . unterscheidet, ist, daß der behandelnde Arzt auf dessen 
Gutachten sich das Gericht noch 3 läge vor dem Tode Kutiskers 
stützte, nicht ein x-heliebiger Gefängnisarzt, sondern der Direktor 
der Universitätsklinik, Geheimer Medizinalrat und Professor Ordi- 
narius ist. Ob His ähnlich sich verhalten hätte, wenn nicht der 
ostgalizische Jude Kutisker, sondern etwa der Graf Platen oder 
der Fürst Eulenburg incriminiert gewesen wären, mag dahinge- 
stellt bleiben. Weil man die Antwort nur psychologisch geben 
kann, nicht aber mit mathematischer Genauigkeit. Nicht der An- 
geklagte interessiert, sondern der Gutachter. Die o bjektive Wissen- 
schaft, als Dienerin der herrschenden Klasse. ..Professor -heißt 
Bek enner. ffo'Amt des Professors der inneren Medizin ist nicht 
einzelnes Lehr- und. Forschungsamt, so ndern es hat eine politische 
Bedeutung. F..$ ist politisch_zm werten. Deshalb ist zu wünschen, 
daß der V. S. Ae. und auch die sozialistischen Parteien zu den Be- 
rufungen und zu der Neubesetzung Stellung nehmen. Man steile 
sich' vor, was in einem analogen Fail geschehen wird, wenn der 
Beschuldigte in die chirurgische Klinik des Professors Sauerbruch 
eingeliefert wird, der sicherlich ein ausgezeichneter Chirurg ist, 
aber mit noch mehr Herzenslust der Deutsch-Völkischen Partei 
angehört. Es ist nicht angängig, daß zu seiner Berufung nur der 
„Montag-Morgen“ Stellung nahm, während die Linksblätter und 
auch der V. S. Ae. dazu schwiegen. Ein anderes Beispiel der ver- 
paßten Gelegenheiten zur Aufzeichnung ist die Berufung VoIIhards 
von Kalle nach Frankfurt a. Main. Der Gla ube m die „objektive“ 
Wissenschaft ist trotz Rosa Luxemburgs Kampfschrift gegen Som- 
bart noch zu weit verbreitet, auch i n Arbeit_ej jixeiS.ejL.Ihre Klassen- 
gebundenheit ist immer wieder und wieder zu demonstrieren. Der 
Fall His ist ein gutes Beispiel dafür. F. B. 

Gesundheitswoche in der tschecho-slowakischen Republik. 

Wie in Deutschland im Vorjahre, so fand in der ersten Maiwoche 
dieses Jahres eine Reichsgesundheitswoche in der tschecho-slowa- 
kischen Republik statt, mit Radio, Kino, zahlreichen Vorträgen und 
Festreden, Mutterehrungen und ähnlichen Schikanen, die wir zur 


^6 Rundschau 

Genüge kennen. Der V.S.Ae. hat vor Jahresfrist in einer Sonder- 
nummer unserer Zeitschrift, in Versammlungen und Demonstra- 
tionen' gemeinsam mit vielen Arbeiterorganisationen zu der bürger- 
lichen’ Gesundheitswoche kritisch Stellung genommen Gegenüber 
all den billigen Phrasen vom Gesundhedsschutz von der Sorge um 
‘den Nachwuchs gilt uns nur dietatkraftigeEnergi^e.^i ^ 
dem Gebiet der sozialen Hygiene und Fürsorge an uen i ag geleg 
S um dem materiellen und kulturellen Darben der verelendeten 
Volksschichten Einhalt zu tun. Wir warnten mit guten 7 ™aen, 
daß die mit so großen Propagandamitteln ms 
2 -esundheitswoc’ne die werktätigen müssen vun ucn ounuwn 
kapitalistischen Gesellschaft und von dem entschlossenen Kampfe 
gegen die weitere gesundheitliche Verelendung abzuienKen geeignet 
sei. Es ist uns erfreulich, festzustellen, daß unsere Genossen m er 
Tschecho-Slowakei denselben Standpunkt eingenommen haben. Ler 
„Sozialdemokrat“, das sozialistische urgan, scnneo oei 

dieser Gelegenheit: 

Wir wicQPTi daß das gewaltige Uebermaß aller Schädigungen der 

I ÄÄM O ÄÄ ÄÄ 

; 

1 das sind die besten, ja die einzigen wirksamen Mittel, um die Volksgesun 

he t Von diesem Geiste war auch die große Plakatpropaganda be- 
seelt die Partei, Krankenkassen und Gewerkschaften sehr Wirkung - 
voll im Lande entfaltet haben. Ein Plakat hat. es der Bourgeoisie be- 
sonders angetan, auf dem eine Proletariegrau mit zwei kleinen Kin- 
dern abgebildet ist. Dem offiziellen Motto „E h r e t d a s s 1 1 1 1 
Heldentum der Arbeiterfrauen“ sind die kräftigen Satze 

beigefügt ^ ^ ^ pieifen euch auf Muttertage! Sie 
fordern mehr Fürsorge für Schwangere utid 
Mütter, ordentliche Arbeitslöhne, gesunde Woh- 
nungen niedrige Mieten, billige Lebensmittel 
und°Bef r eiung vom barbarischen 

Die „S o z i a 1 e Rundscha u“, das Organ des Reichsverban- 
des der deutschen Krankenkassen in der tschecho-siowakiscnen Re- 
publik (Brünn, Quergasse 24) hat eine starke Sondernummer he. - 
ausgegeben in der alle Fragen der Volksgesundheit in unserem Sinne 
behandelt sind. Tuberkulose. Wohnungswirtschaft und Bevolke- 
rungspolitik, Kinderfürsorge, Berufskrankheiten, Arbeitersport, Al- 
koholismus, Probleme der Zahnpflege werden von sozialistischen 
Kollee-en und Genossen, darunter uruschka, Hohtscher und^ Hecht, 
eingehend behandelt. Wir empfehlen die Lektüre dieser atinuai en- 
den „Sozialen Rundschau“, die am Schluß eine Zusammenstellung 


Rundschau 


57 


der wissenschaftlich en und populären Bücher und Zeitschriften über 
soziale Hygiene bringt, der besonderen Aufmerksamkeit unserer 
Leser. E. Silva. 

Medizin in China 

Interessante Mitteilungen über chinesische Medizin machte ge- 
legentlich eines deutsch-chinesischen Abends Prof. Dr. H ü b o 1 1 e r, 
der lange Jahre als Kränkenhausleiter in China tätig war. Der 
Vortragsabend war veranstaltet' vom Hau.ptverband chine- 
sischer Studenten in Deutschland. 

Die abendländische Medizin kann in China nur schwer die ein- 
heimische Medizin verdrängen, da das chinesische Volk diese höher 
einschätzt, als die vom Europäer importierte. Die chinesische 
Medizin hat eine Jahrtausende alte Tradition. Sie kann auf dem Ge- 
biete praktischer Beobachtungen — gestützt auf gesammelte Er- 
fahrungen vieler Jahrhunderte — auch der europäischen Medizin 
manches Wertvolle bieten. In ihrem theoretischen Aufbau trägt 
sie überwiegend religiösen, mystisch-spekulativen Charakter, . es 
fehlt ihr vor allem die anatomische Grundlage, da die Obduktion 
nur ganz ausnahmsweise vorkommt. Sie ist vom Prinzip be- 
herrscht, daß zwischen den Elementen des Weltalls und dem 
menschlichen Körper eine enge, mystisch aufgefaßte Verbindung 
besteht 

Bewundernswert entwickelt ist die Pulsuntersuchung. 27 Puls- 
arten werden unterschieden, und mit unglaublichem Scharfsinn und 
Feinheit der .Beobachtung werden aus der Beschaffenheit des 
Pulses Schlüsse gezogen. 

Viele der in China gebräuchlichen Medikamente sind mit den 
unseren identisch. 

Von der europäischen Medizin wird am meisten die kleine 
Chirurgie beachtet, große Chirurgie dagegen abgelehnt. 

Die häufigsten Krankheiten in China sind: Syphilis, Trachom 
und Tuberkulose. Sozialhygiene ist zurzeit noch unbekannt. Auf- 
fallend selten sind Geisteskrankheiten, was eine Erklärung darin 

findet, daß ' der Alkoholmißbrauch in China unbekannt ist. 

Dr. n. L,. 


Schweizer Oberrichter gegen den Gebärzwang. 

Fünf Züricher Oberrichter haben an den Schweizer National- 
rat eine Eingabe gerichtet, in der sie für den bevorstehenden neuen 
schweizerischen Strafgesetzentwurf entscheidende Änderungen der 
Abtreibungsparagraphen verlangen. Ihre Vorschläge gehen c.ahin, 
die straflose Schwangerschaftsunterbrechung in den ersten arei 
Monaten der Schwangerschaft zu ermöglichen und darüber hinaus 
ohne Rücksicht auf die Dauer der Schwangerschaft bei Lebens- 
gefahr der Mutter, bei eugenischer Indikation und bei Notzucnt, Be- 
sonders bei Minderjährigen. 


58 Rundschau 

. Sie begründen ihre Vorschläge mit ganz ähnlichen Argumenten, 
wie sie beim sächsischen Amnestiegesetz 1923 von dem sächsischen 
Ministerialrat Wulffen gebracht wurden: gerade aus der richter- 
lichen Praxis heraus ergibt sich die Gefährlichkeit der heutigen 
Strafbestimmungen für die Gesundheit der Arbeiterfrauen und 
gleichzeitig auch die Unmöglichkeit, durch '/erböte die durch Not 
getriebenen Proletarierinnen an der Abtreibung zu verhindern. Sie 
verlangen deshalb die Aufhebung der Abtreibungsparagraphen als 
einzigen Weg für die Rettung der Frauen aus den Händen ge- 
wissenloser und gewinnsüchtiger Pfuscher. 

Die. Schweizer Richter stützen ihr richterliches Gutachten durch 
das medizinische Sachverständigenurteil von Prof. loührssen, der 
sich ja auch schon in unserem Organ für Gebärfreiheit einge- 
setzt hat 

Es ist erfreulich, daß die Einsicht von der Ünhaitbarkeit der 
Abtreibungsparagraphen sich nach jahrzehntelangem Kampf der 
Sozialisten und vor allem der sozialistischen Ärzte auch im bürger- 
lichen Lager immer mehr Weg bahnt. Der bekannte französische 
Romandichter Victor Margueritte hat das Problem im gleicher^ Smne 
in seinem neuen Koman zu lösen versucht. • M. F. 


Eheberatung. 

Am 12. Juni d. J. wurde in einer Konferenz im Berliner Haupt- 
gesundheitsamt ein Bund deutscher Eheberatungs- 
Steilen begründet, der eine Vereinheitlichung der bei der Be- 
ratung anzuwendenden Grundsätze erstrebt. Das Hauptinteresse 
der. Gründungs Versammlung erstrecKte sich, abgesehen von Ge- 
schäftsordnungsdebatten, auf vererbungsbiologische ■ Gesichts- 
punkte, eine Haltung, die gelegentlich der Veröffentlichung unserer 
Leitsätze zur Eheberatung (si,ehe „Soz. Arzt“. II. Jahrg. 
Nr. 4) bereits hinreichend kritisiert worden ist. Ueber diese aka- 
demischen Angelegenheiten hinaus wiesen nur einige sehr zaghafte 
Andeutungen, die das Gebiet der geburtenverhütenden Mittel 
streiten, mit dem Ergebnis, man müsse unter allen Umständen ver- 
meiden, daß die Beratungsstellen in den Geruch der Propaganda 
für Geburtenverhütung kämen. Diejenigen, die die Absicht hatten, 
entschiedene Forderungen im Interesse der von uns vertretenen 
Anschauungen zu stehen, wurden „mit Rücksicht auf die vorge- 
schrittene Zeit“ nicht zum Wort -gelassen. Die Einberufer der 
Versammlung konstituierten sich als vorläufiger Vorstand. Diesem 
wird es Vorbehalten sein, uns und andere davon zu überzeugen, 
daß der neue Bund nicht als ausschließliches Ziel hat, unter dem 
Deckmantel der „Vorsicht und Zurückhaltung“ die Geschäfte der 
bürgerlichen Reaktion zu besorgen. Hodann. 


Sozialhygienischer Ausschuß der Stad; Berlin. 

Die für Groß-Berlin zuständige Hauptgesundheits-Deputation 
hat aus ihrer Mitte einen ständigen sozialhygienischen Ausschuß ge- 



Rundschau 


Wyr- WWW 


55 


wählt. Ihm gehören von sozialistischer Seite an die Gen. Leo Kiau- 
ber, Käthe Frankenthal,- M. Wygodszinski und Bauer. Zu den Auf- 
gaben gehören Beratungen über die Maßnahmen, die sich aus dem 
Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ergeben, ferner 
die Neuregelung des Schularztwesens, die Frage der Schulzahn- 
pflege etc. 


x 


Die Zersplitterung im Krankenkassenwesen. 

Im V. S. Ae. ist bei Behandlung des Krankenkassenwesens 
häufig betont worden, wie die Leistungsfähigkeit der Kassen behin- 
dert wird durch die unglaubliche Zersplitterung. Einer eingehenden 
Schilderung dieses ungesunden Zustandes, die K. Siegler im „Vor- 
wärts“ kürzlich gab, entnehmen wir, daß im Stadtgebiet 
Berlin über 200 Krankenkassen ihr Dasein fristen. Es 
gibt 19 Allgemeine Ortskrankenkassen, 11 Berufs- (besondere) Orts- 
kassen, 109 Betriebs-, 54 Innungs- und 18 Ersatzkrankenkassen. Die 
' größte, die A.O.K. der Stadt Berlin, hat 500 000 Mitglieder. Die 
kleinste liegt im Ortsteil Wannsee des Verwaltungsbezirks Zehlen- 
dorf und zählt 2000 Mitglieder. 

Unter den Betrieöskrankenkassen haben reichlich 60 Prozent 
weniger als 500 Versicherte, sechs Kassen sogar unter 150. 

Am schlimmsten steht es mit den Innungskranken- 
kassen, die zum größten Teil nur ein Schattendasein führen. Es 
gibt über ein Dutzend Krankenkassen der Bäcker, ein halbes Dutzend 
der Fleischer und Friseure; drei der Tischler usw. Ihre Mitglieder- 
zahlen schwanken zwischen zwei Dutzend der Friseur-Innungskran- 
kenkasse in Britz und 14 000 der Tischler für Alt-Berlin. Aber die 
Mehrzahl der 54 Kassen hat weniger als 1000 Versicherte. 

Es ist zu wünschen, daß die Bemühungen des Ortsausschusses 
Berlin des A. D. G. B., eine Vereinfachung durch große, leistungs- 
fähige Kassen zu erzielen, endlich Erfolg haben möchten. Die ge- 
waltigen Summen, ülw diese unzähligen Krankenkassen an Verwal- 
tungskosten allein verschlingen, können im Interesse der kranken 
Versicherten nutzbringender Verwendung finden. F. 

Der 4. Aerztekongreß in Moskau. 

Ueber die kürzlich beendete Tagung berichtet I. Golden- 
berg in der Zeitschrift „Das Nene Rußland“. Im Laufe der letz- 
ten zwei Jahre stieg die Zahl der Mitglieder der ärztlichen Sek- 
tionen des Medsantrud (Verein aller im Gesundheitswesen 
Tätigen) um 53 Prozent und erreicht gegenwärtig die Zahl von 
53 000 Personen. Durch die gemeinsame Organisation verschwin- 
det allmählich der Antagonismus, zwischen dem medizinischen 
Hilfspersonal und dem Facharzt. Die Aerzte werden immer mehr 
in die aktive Gewerkschaftsarbeit einbezogen, auf deren Entwick- 
lung sie einen günstigen Einfluß durch ihre Erfahrung und ihre 
Kenntnisse ausüben. Der 4. Aerztekongreß richtete sein beson- 


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60 


Rundschau 


deres Augenmerk auf die Mängel, die die Lage der Aerzte in der 
Sowjetunion immer noch aufweist. Mit fortschreitendem mate- 
riellem Aufstieg des Landes werden auch die materiellen, kultu- 
rellen und .rechtlichen Bedingungen der ärztlichen Tätigkeit sich 
bessern, zumal der öffentliche Arzt als Träger der hygienischen 
Volksbelehrung und als qualifizierter Mitarbeiter im Gesundheits- 
wesen eine sehr aktive Rolle spielt. In den Sektionen für Mutter- 
schaft und Säuglingsschutz, in den Abteilungen zur Bekämpfung 
der sozialen Krankheiten, in den Kommissionen zur Sanierung der 
Wohnorte, allüberall leistet der Arzt eine fruchtbare Arbeit im 


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uivuoiv uvo w VilViail^Lll V UllVCd« 


Die Sowjet-Medizin betrachtet gegenwärtig die Sanierung der 
intellektuellen Arbeit als eine wesentliche Aufgabe. „Die Sowjet- 
Medizin im Kampf um gesunde Nerven“ (Berichte der Aerzte- 
konferenz für Psychiatrie und Neurologie) enthält ein sehr reich- 
haltiges Material auf diesem Gebiete. Der Entwurf des Gesetzes 
betr. das Arbeitsregime und die Schulkindererholung ist das erste 
Anzeichen der aktiven Anteilnahme des Arztes am Schulregime. 

E. F. 


Der So Bundestag 
des Ärbeiter~Samariter~Bundes 

In Weimar fand Ostern 1927 der 8. Bundestag des Arbeiter- 
Samariter-Bundes statt. Der Bundesvorsitzende Kretzschmer gab 
einen umfassenden Bericht über die Tätigkeit des Bundes in den 
letzten zwei Jahren. Die erfreuliche Entwicklung konnte auch nicht 
gehindert werden durch die Bekämpfung, die zahlreiche Kolonnen 
des Roten Kreuzes dem Bunde angedeihen lassen. Der Kassen- 
bericht ergab eine gesunde Finanzlage des Bundes, und der tech- 
nische Bericht zeigte zahlenmäßig die ausgedehnte Tätigkeit des 
Bundes auf dem Gebiete des Sämariterwesens. Nach, einem ein- 
gehenden Referate über die Aufstellung von Jugendabteilungen 
wurde der Bundesvorstand beauftragt, Richtlinien dazu herauszu- 
geben. Auch die den Bund schon lange beschäftigende Haus- und 
Krankenpflege fand eine eingehende Besprechung. Von den zahl- 
reichen Beschlüssen sind die wichtigsten die Errichtung eines 
Bundeshauses mit Funktionärschule, die Verbesserung der Unter- 
stützungseinrichtungen und die vollständige Umarbeitung der 
Satzung. Außerdem wurden folgende drei Resolutionen gefaßt: 

1. „Der 8. Bundestag des Arbeiter-Samariter-Bundes zu Ostern 1927 in 
Weimar bedauert lebhaft, daß trotz der Versprechungen der Leitung des 
Deutschen Rcten Kreuzes, jede Bekämpfung des ASB. zu unterlassen, und 
diesen Standpunkt für alle Vereine des RK. verbindlich zu machen, eine 
hinterhältige Bekämpfung des ASB. durch zahlreiche Vereine des RK. 
weiterhin stattfindet. 

Der Bundestag stellt mit Erstaunen fest, daß die Leitung des Roten 
Kreuzes trotz seines militaristischen Aufbaues nicht imstande ist, bei 
seinen untergeordneten Steilen das gegebene Versprechen durchzuführen.“ 


Rundschau 


61 


2. „Der 8. Bundestag des Arbeiter-Samariter-Bundes zu Ostern 1927 in 
"Weimar bedauert lebhaft, daß der Allgemeine Deutsche Gewerkschafts- 
Bund als Vertreter der freien deutschen Gewerkschaftsbewegung, vertreten 
•durch den Genossen Graßmann, im Zentral Vorstand des Roten Kreuzes 
sitzt und in der dem ADüB. nahestehenden Organisation, dem Arbeiter- 
Samariter-Bund mit einer Mitgiiederzahl von über 41 000 in über 1000 
Kolonnen nicht durch em Mitglied vertreten ist. 

Die volkswirtschaftliche Bedeutung des ASB., die sich in den hohen 
.Zanien der Hilfe^-'stung in den Betrieben und- im öffentlichen Leben kenn- 
zeichnet,' sollte den ADGB. veranlassen, sich in voller Form der für seine 
(ADGB.) Bewegung zu notwendigen Organisation des ASB. mehr zu 
widmen und ihm nicht nur die gleiche, sondern eine größere Beachtung 
zu schenken, als dem Roten Kreuz. 

Der Bundestag 1927 des ASB. erwartet bestimmt, nachdem der ASB. 
-seit seinem Bestehen bestrebt war und auch fernerhin bleibt, dem gesamten 
Volke seine Dienste zur Verfügung zu stellen, daß sich der ADGB. in 
kürzester Frist zu gemeinsamer Arbeit mit dem Bundesvorstand des ASB. 
■zusammenfindet.“ 

3. „Der 8. Bundestag des Arbeiter-Samariter-Bundes zu Ostern 1927 in 
Weimar erhebt die Forderung, daß er entsprechend seiner volkswirtschaft- 
lich gemeinnützigen Tätigkeit, entsprechend der hohen nachweisbaren 
Zahl seiner Hilfeleistungen und' entsprechend seiner vorzüglichen A i? s- 
bildungsmethoden von den Regierungen anderen Samariterorganisationen 
mindestens gleich gewertet wird und daß ihm deshalb die volle Gleich- 
berechtigung und staatliche Anerkennung zu gewähren ist. 

Eine Organisation, die bestrebt ist. sich dem Volkswohle in selbst- 
loser Arbeit zu widmen, darf nicht mit anderem Maße gemessen werden, 
als andere Samariterorganisationen. 

W r ir erheben daher mit allem Nachdruck- die Forderung, daß der 
Arbeiier-Samariter-Bund die ihm zukommende öffentliche Anerkennung 
durch die Regierungen der Länder des Deutschen Reiches erhält.“ 

Unter den zahlreichen Begrüßungstelegrammen fand sich auch 
ein solches vom Verein Sozialistischer Aerzte. Ein enges Zu- 
sammenarbeiten beider Organisationen wurde ganz besonders vom 
Berichterstatter begrüßt werden. Dr. M. 

Äss der sozialistischen Ärztebewegung 

Dr. Kirsehieid-xiarburg t* 

Mit dem am- 28. April im 65. Jahr verstorbenen Kollegen 
H i r s c h f e-I d haben wir einen der ältesten sozialistischen Ärzte 
verloren. Schon in seiner Jugend sich zur Sozialdemokratie be- 
kennend, wurde er während seiner militärischen Dienstzeit „wegen 
sozialistischer Umtriebe“ degradiert — ein Geschick, das er mit 
dem Unterzeichneten teilte, der deswegen nicht zum Sanitäts- 
offizier befördert und zu „Vater Philipp“ in Arrest gesteckt wurde, 
— der Fall Hircshfeld erregte z. Z. großes Aufsehen im Reichstag, 
als Bebel ihn vorbrachte. In Harburg a. d. Elbe niedergelassen, 
gewann er bald eine große Beliebtheit und entwickelte eine um- 
fangreiche ärztliche und kommunale Tätigkeit, würde Senator im 
Magistrat und Berater in allen, besonders sozialhygienischen Fragen. 
In seinem Haus verkehrten und wohnten selbstverständlich unsere 
Parteivertreter und Reichstagsabgeordneten, wenn sie auf Agita- 


62 


Rundschau 


tion nach Harburg gerufen wurden (ähnlich wie früher in Halber- 
stadt bei unserm ebenfalls schon verstorbenen Kollegen Moritz 
Crohn). Seine außerordentliche Liebenswürdigkeit, seine Opfer- 
willigkeit und stete Hilfsbereitschaft machten ihn auch außerhalb 
des engeren Kreises der Genossen zum Freund und Berater in allen 
Fragen der Volksbildung. Er verkehrte mit den Vertretern der 
modernen Literatur aufs intimste, sammelte eine kostbae Bibliothek, 
die er vor 15 Jahren bereits der Harburger Arbeiterschaft zum Ge- 
schenk machte. Nach Gündung unseres „Vereins Sozialistischer 
Ärzte“ wurde er eines der ersten auswärtigen Mitglieder, der auch 
zu den größeren Veranstaltungen des Vereins regelmäßig in Berlin 
erschien und sich an unsern Arbeiten beteiligte. Wir werden den 
jieben, selbstlosen Freund nicht vergessen. Z a d e k. 

Neue Mitglieder 

In Berlin: Else Knake; Ernst August Ascher; F. Posner; 
Tompakow; Ad. Hopff; Margarete Brandt; Paul Vogler; Eva Roth- 
mann; Ernst Cohn; Schapiro; Bermann. 

Chemnitz: L. Münz; Glaser; Sichel; F. Geis. 

Hamburg: Prof. Andreas Knack; J. Toeplitz. 

F r e i t a 1 (Sachsen) : Stadt- u. Med.-Rat Wolf. 

Karlsruhe: Cohn-Heidingsfeld. 

Pforzheim: N. Roos; 

Waltershausen (Th.) : M. Nußbaum. 

Zürich: Minna Tobjer-Christinger. 

K o m c t a u : Arnold Holitscher. 

Turn-Teplitz: Ernst Lieben. 

B r i e s e n (Mark) : Ad. Frank. • 

Hannover: Hörnicke. 

-Zur Aufnahme gemeldet: Meyenberg-Berlin; Rieh. Epstein- 
Aussig. 

Veranstaltungen des VSÄ. 

Auf der Tagesordnung der Mitgliederversammlung vom 14. 3 % 27 
standen zwei Referate. 1. „Die neue Ernährungslehre und das 
Proietaria t“. Referent Gen. G ü t e rb o c k. 2 . „D ie Arbeits- 
therapie in den 'Heil- und Pf 1 e g-e a n s t a 1 te n“, Referent Gen.. 
Paul L e v y vom Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter. 

Gen. Güter bock legte in längeren Ausführungen die völlig ünzu 
reichende., vor allem gesundheitsschädigende Art der heutigen Volks- 
ernährung dar. Sein Kampf gik der ungenügenden und daher mangelhaften 
Essenszubereitung im Proietarierkaushalt. hervorgerufen durch die viel- 
verbreitete Doppelbelastung der Arbeiterhausirau durch Haushalt und 
Berufsarbeit, sein Kampf gilt aber auch der Lebensmitteiverfälschung, der 
Schädigung, die Zuckerraffinade und 3:ichsenkonservierung auf die Dauer 
auf die Volksgesundheit bewirken. Er ruft deshalb auf zum Mehrverbrauch 
von Rohkost, 'besonders Obst. Salaten und Gemüsen, zu möglichster Ver- 
meidung von Büchsenkonserven, zur Schaffung von guten und billigen 
Volks- und Gemeinschaftsküchen. 


Rundschau 


65 


Gen. tevy brachte äußerst interessantes und wichtiges Material über 
die Arbeitstherapie in Irrenanstalten vor, er brachte cs — was das wert- 
vollste war — aus eigener Anschauung: Sein Referat, das wir an anderer 
Stelle dieser Nummer bringen, machte auf die Anwesenden den nachhaltig- 
sten Eindruck. Niemand kann Lieh der Wichtigkeit und der schweren 
Gefahr der neuen Methode der Arbeitstherapie verschließen. Das kam in 
aer Diskussion voll zum Ausdruck. Es sprachen: Leibbrand Lothar 
Wolf. Wien« rs-Bernau, Drucker, Karfunkel, Weiß, 
Güterbock, Raben - Wolf, Haustein, Tompakow, Fried- 
rich-Schulz. 


In der Diskussion wurde die unwissenschaftliche Methode gegeißelt, die 
inadaequatheit der psychischen Struktur und der mechanistischen Arbeit, 
der Mangel an Rücksicht aui innere Befriedigung, an InuividualiücksichL 
aui psychopathische Veranlagung; es wurde auf die klassenjustizmäßige 
Ausbeutung der Pfleglinge hingewiesen; die bürgerlicherseits viel gerühmte 
neue Arbeitstherapie in Parallele gesetzt zur Industrialiserung in Straf- 
anstalten, sie wurde als Sklavenarbeit gebrandmarkt, die aus der gewerk- 
schaftlichen Ordnung herausgenommen ist. Forderungen für Arbeit nur 
für Arbeitswillige wurden laut, Forderungen der Unterbringung der 
asozialen und antisozialen Elemente in Bewahrungsanstalten, wobei die 
Trinker ganz besonders erwähnt wurden. Hinweise auf die außerordent- 
lich mangelhafte Ernährung in Irrenanstalten wurden gebracht. Ver- 
gleiche mit den Bestimmungen in russischen Strafanstalten wurden ange- 
stellt, wc nur 25 Prozent des Lohnes zur Beköstigung zurückgehalten wird, 
während 75 Prozent ausbezahlt werden, dabei sind, die i^öhne den all- 
gemeinen Löhnen vollkommen angepaßt, ebenso der Preis für die Produk- 
tion, die an die Staatsbetriebe abgeführf wird, den geltenden Preisen. 
Also keine unlautere Unterbietung und Lohndrückerei durch die Arbeit in 
der Anstalt! Die Aufmerksamkeit wurde gelenkt auf die Ausbeutung des 
Pflegepersonals, auf seinen mangelnden Arbeitsschutz und seine übermäßige 
Arbeitszeit. Beamtetes Pflegepersonal untersteht nicht dem Arbeits- 
schutz- und Arbeitszeitgesetz! 

Zur Bekämpfung dieser schweren Mißstände und Auswüchse wurde 
folgende Resolution angenommen: 

„Die Mitgliederversammlung des V.S.Ä. beschließt, daß eine Kom- 
mission von 5 .Mitgliedern gebildet werde, die gemeinsam mit dem Vor- 
stand des V.S.Ä. und dem Gen. Paul Levy sich das Studium der Arbeits- 
zustände (Arbeitstherapie) in den öffentlichen deutschen Heil- und Pflege- 
anstalten. vornimmt, und hierüber innerhalb dreier Monate den Mitgliedern 
des V.S.Ä. benebret.“ 


In die Kommission wurden gewählt: Drucker, Frankel, 

Leibbrand, Juliusburg er, Hodänn, Simmel. 

Am Schluß der Versammlung wird eine von Gen. L a n t o s vorge- 
brachte Protest-Resolution gegen die Mißhandlung der politischen 
Gefangenen in Ungarn einstimmig angenommen. 

I Der „Verein Sozialistischer Ärzte“ lud seine Mitglieder 
j zum 26. April 27 zu einer eindrucksvollen Veranstaltung ein, mit dem 
! Thema: „Der Sowjetarzt u_nd die sanitäre Kultu r.“ Keterent 
war der bekannte, um" das söwjetis tische Gesundheitswesen sehr ver- 
diente Gen. Straschun, Dozent für soziale Hygiene an der staatlichen 
Universität Moskau. 

In seinem Vortrag zeichnet Gen. Straschun als grundlegendes Prinzip' 
der Sowjetmedizin den Grundsatz auf, daß die soziale Medizin sich nicht 
um einzelne erkrankte Organe zu kümmern habe, sondern den kranken 
Menschen mitsamt seiner ganzen Umgebung und seinen sozialen Lebens- 
bedingungen wie Wohnung, Ernährung,. Arbeitsbedingungen . berücksichti- 
gen müsse. Hierzu sei notwendig eine Ärzteschaft, die ideell gerichtet und 
materiell gesichert ist. Hierzu sei ein enger Konnex zwischen Arzt, 
Arbeiter und Bauer notwendig, damit der Arzt wirklich erkennen lerne, 
welche prophylaktischen hygienischen Maßnahmen, besonders auch auf 



Rundschau 

dem Lande, die Volksgesundheit heben können. Die vom ersten Moment 
an durchgeführte, wichtigste Maßnahme des Gesundheitskommissariats war. 
die allgemeine unentgeltliche Behandlung. Der nächste Schritt die 
systematische • und regelmäßige Untersuchung der Arbeiter im Betriebe 
mit Führung von genauen Gesun d h eitslisten unter Berücksichti- 
gung des Milieus. Daneben muß hygienische Volksbelehrung, 
die breiten Massen der Arbeiter- und' Bauernbevölkerung aufklären über 
die notwendigen dringenden Sicherungen im täglichen Leben für die Er- 
haltung und Besserung der Gesundheitsverhältnisse. Gerade auf diese 
hygienische Volksaufklärung werde in Sowjet-Rußland besondere Mühe 
und Sorgfalt verwendet. Zahlreiche, leicht verständliche, eindrucksvolle 
Plakate über Mutterschutz, Säuglingspflege, Typhusgefahr, Gesundheit der 
Hirten und viele andere unterstützen hier die Arbeit des Sozialhygienikers. 

hygienisenes Neuland, aber aucii neues lüuu, oei 
großer allgemeiner Rückständigkeit der Versuch zur Durchführung neuer 
grundlegender, kollektiver Prinzipien der sozialen Hygiene, die dem Uebel 
von der Wurzel her - beikommen sollen. Vieles sei erst Programm und 
Entwicklungslinie, werde aber mit stärkster Intensität und teilweise auch 
schon mit sehr sichtbarem Erfolg angestrebt. 

An der lebhaften Diskussion beteiligten sich: Buß mann, Bieber, 
Güterbock, Roesle. Die ersteren meist mit Fragen an den Refe- 
renten über Impfzwang; freie Praxis, Kurpfuscherei, Instanzenweg für- 
bessere Wohnung etc. Der Referent beantwortete diese Fragen eingehend; 
Güterbock zeigte den Unterschied in der Indikationstellung für Heil- 
stättenbehandlung bei uns und in Sowjet-Rußland, nimmt an, daß die Zahl 
der russischen Arzte noch viel zu gering, daß man aber die Neu- 
schaffung vieler Krankenhäuser, Entbindungsheime, Säuglingsfürsorge- 
stellen auf dem zaristischen Nichts voll anerkennen müsse. R o e s 1 e 
sprach über die prophylaktische Medizin , wi e sie vom russischen Gesund- 
heitskommissanaf ""in “ bisher einzigartiger Weise durchgeführt werde. 
Grundleg end sei d as sani täre Journal, das mit Untersuchung vor Arbeits- 
antritt Begonnen unef durcF fortlaufende regelmäßige W eiter ürit ersüchungen 
ergänzt werde; das sei für al l e Lander von allergrößtem ^ert, denn 
nur so könne man weiterkommen. Roesle erwähnt noch den Kongreß der 
Mediziner-Statistiker, auf dem ein bedeutsames Schema für die Sowjet- 
i -Gesundheitsstatistik angenommen sei, das es ermögliche, allen ursächlichen 
's Erscheinungen der Volksgesundheit nachzugehen. 

Am 12. Mai 27 rief der V.S.Ä. seine Mitglieder zu einer großen Kund- 
gebung gegen • W o h nun gs n o t und .Wohnungselend in das 
Herrenhaus. Der V.S.Ä, glaubte verpflichtet zu sein, .in s einem Kamp j 
um Hebung der Volksgesundheit das dringendste. Problem" dieses Kampfes, 
•die Wohnungsnot mit allen ihren schweren Folgen der breitesten Öffent- 
lichkeit vor Augen zu führen". Der V.S.Ä. bezweckte mit dieser Kund- 
gebung die Aufrüttelung des öffentlichen Gewissens zur Abhilfe gegen die 
menschenunwürdigen Wohnverhältnisse, die bei uns in Deutschland nicht 
-etwa nur in der Großstadt Berlin, sondern auch -in den 'andern größeren 
und kleinen Städten und sogar auf- dem Lande herrschen. Die Referate 
und. die angenommener. Richtlinien, die in der Presse, auch in der bürger- 
lichen Presse, weite Verbreitung fanden, werden an anderer Stelle dieser 
Nummer ausführlich gebracht. 

Das Thema „Die Ärztekammer wähl und die sozialisti- 
schen Ärzre“ wurde in der Mitgliederversammlung am 29. Juni 27 
behandelt. ' Referenten wären; Gen. Georg Löwenstein und 
Gen. Leo Klauber. Beide Genossen betonten die Notwendigkeit, in 
dem üöeralteten Ärztekammerkoilegium unsere sozialistische Welt- 
anschauung durchzu setzen, am bei der Aufgabe des neu zu wählenden 
Standescarlamentes, bei der Erörterung der Fragen des öffentlichen Ge- 


sa ndhei tswesens und 




rztiiehea Standesinteresses entscheidenden 


fluß zu nehmen. Wenn die Ärztekammer auch keine direkten Rechte der 
Mitwirkung bei der Gesetzgebung' besitzt, so ist doch das indirekte Recht; 





PwpuipiMi im> 


Bü :’ior und Zeitschriften 


• ... . - ... .• - r.- - 

65- 


durch Sachverständige aus der Kammer die Gesetzgebung zu beeinflussen,, 
sehr wichtig für die Gesu.idheitsinteressen der Arbeiterklasse. Wir 
müssen also in die Ärztekammer hinein, und wir müssen dazu eine eigene. 
Liste aufstellen. Nachdem sich die Verhandlungen mit der Arbeitsgemein- 
schaft sozialdemokratischer Ärzte über eine gemeinsame Liste zerschlagen 
haben, 'muß der V.S.Ä. seine Liste herausbringen/ Auf dieser Liste sollen, 
nicht Mitglieder einer Partei kandidieren, sie soll vielmehr eine 
sozialistische Einheitsfron: für die Qesundheitsintercssen des Proletariats 
und die Standesür. -cressen der Ärzte darstellen. 

In der Diskussion wurden die Anschauungen der Referenten gebilligt- 
Das von den Gen. Klauber und Drucker entworfene Wählprogramm wurde 
der Redaktion einer Kommission übergeben, die aus dem Vorstand und 
den Genossen Hodann, Benjamin. Löwenstein. Bieber 
'bestehen soll. Sodann ging man an die Aufstellung der Kandidatenliste, 
die in dieser Nummer veröffentlicht wird. M. Fl. 


Bücher und Zeitschriften 


(Besprechungen Vorbehalten). 

Reichssekiion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und 
Staatsarheiter: Denkschrift zur Arbeitszeit in den Kranken- und Pflege- 
anstalten und in Heimen zur Beratung des Entwurfes eines Arbeitsschutz- 
gesetzes. 1927. 

Die Denkschrift behandelt die Arbeitsverhältnisse in den Kranken- und: 
Pfiegeanstalten in der Vorkriegszeit, die Einführung des Achtstundentages, 
in 125 der größten Anstalten Deutschlands durch die Verordnung der 
Volksbeauftragten vom 23. 11. 1918. Die achtstündige Arbeitszeit wurde 
dann wieder durch die „Verordnung über die Arbeitszeit in Krankenpflege- 
anstalten vom 13. 2. 1924“ beseitigt und durch eine Arbeitszeit von 
60 Stunden pro Woche ersetzt, weil sich angeblich der Achtstundentag mit 
den „Belangen der Kranken“ nicht vereinbaren ließe. Trotz der Verord- 
nung wurden von der Reichssektion Gesundheitswesen 129 Tarifverträge 
für 669 Kranken- und Pfiegeanstalten direkt oder in ihrem Aufträge ab- 
geschlossen. Ohne Gefährdung der Kranken wurde in diesen Verträgen 
die Arbeitszeit tariflich geregelt. 

Stellt die Verordnung vom 13. 2. 1924 ein direktes Ausnahmegesetz: 
für die Krankenpflegeanstalten dar, so werden die Bestimmungen noch 
durch ein weiteres Ueberschreiten der gesetzlich vorgeschriebenen Höchst- 
arbeitszeit verschlechtert. Durch Statistiken wurde festgesteilt, daß- 
16,4 Prozent der Beschäftigten eine ’ Arbeitszeit von über 60 Stunden pro 
Woche hatten. Alle Beschwerden, alle Anträge der Linksparteien schafften, 
keine Aenderung. Unbedingt muß eine gesetzliche Regelung der Arbeits- 
zeit in den Krankenanstalten etc. sowohl für das beamtete als auch für das 
nichtbeamtete Personal im Rahmen des allgemeinen Arbeitsschutzgesetzes 
geschaffen werden. 

In den hambargischen Siaatskrapkenanstaiten ist der Achtstundentag 
seit. 1920 eingeführt und hat sich gut bewährt. In den städt. Kranken- 
anstalten Berlins, wo der Achtstundentag am 1. 5. 1924 als Folge der Ver- 
ordnung vom Februar 1924 durch den Neunstundentag ersetzt wurde, er- 
folgte Ende 1926. die erneute Einführung des Acht- 
stundentages für das gesamte Personal. Bei diesem Ent- 
schlüsse des Magistrats dürfte ohne Zweifel das Gutachten des V e r e i n s- 
Sozialistischer Aerzte über den Achtstundentag in den Kranken- 
anstalten etc. eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Mit diesem 
Gutachten, das das Problem der Arbeitszeit von alleri Seiten behandelt 
und das im „Soz. Arz t“ II. Jahrg. Nr. 1 -abgedruckt ist, dürfte endgültig: 
bewiesen sein, daß der Unterstellung, des gesamten Kramcenpilege- und. 
•Anstaltspersonals unter das Arbeitsschutzgesetz keine sachlichen Bedenken, 
entgegenstehen. Rieh. Fabian. 



66 


Bücher und Zeitschriften 


Max Hodann: Geschlecht und Liebe in biologischer und gesell- 

schaftlicher Beziehung. Mit neunzehn Abbildungen. Im Greifenverlag zu 
Rudolstadt (Thür.) 1927. _ 

Gen.. Hodann. der schon viele, sehr wertvolle Arbeiten über Sexual- 
fragen verfaßt hat, gibt uns in dem vorliegenden, umfassenden Werk 
populär-wissenschaftliche Betrachtungen über fast alle Gebiete der- Sexual- 
not. Dieses Buch ist vor allem für die proletarische Welt und ganz be- 
sonders für die Arbeiterjugend, für die erwachsene Arbeiterjugend 
bestimmt. Mit begrüßenswerter Offenheit, der gerade durch die unbe- 
dingte Ehrlichkeit jeder pikante Beigeschmack fehlt, wird hier über alle 
Prägen und Schwierigkeiten der Liebesbeziehungen ' gesprochen. 

Hodann schreibt aus seiner reichen täglichen Erfahrung heraus. Und 
aus dieser Erfahrung weiß er, wie oft Unwissenheit in den Dingen des 
Geschlechtslebens, her vorgci üicu tiüiCu laiscue ueuciiienscne i^izicnurig, 
durch Vermuckerung und Verpfaffung der kapitalistischen Gesellschaft, 
gerade auch im Arbeiterleben anfänglich gute und glückliche Liebes- 
beziehungen in zerrüttete und zerstörende Verhältnisse verkehrt. 

Zwei bemerkenswerte Geleitworte leiten das Buch ein: das alte und 
heute wie immer zu Recht betonte Wort Ovids von der Vergeblichkeit, 
Natur unterdrücken zu wollen und der Ausspruch Balzacs, daß die Sitten 
■die Heuchelei der Völker darstellen. Es ist kennzeichnend, daß Hodann 
gerade Balzac zitiert, den großen Schilderer der aristokratisch-bürger- 
lichen Gesellschaft seiner Zeit und ihrer sozialen Widersprüche; Hodann 
schildert die schweren Mißstände im Geschlechtsleben des Volkes in unse- 
rem modernen kapitalistischen Staat, und er zeigt die politischen 
Ursachen dieser Schädigungen der Volksgesundheit. Er deckt aber nicht 
nur auf, er gibt auch Rat zur Abhilfe. Und das ist das Beste an diesem 
ausgezeichneten und einem wirklich großen Leserkreis warm empfohlenen 
Buch. • 

Von den vielen Kapiteln seien besonders hervorgehoben: Von der 
Kunst des Liebesverkehrs, Eheberatung, die Geschlechtsverbindung, Ge- 
burtenregelung, Abtreibungsfrage. Schwangerenberatung, Geschlechts- 
krankheiten. Ehescheidung. Trinkerehe, Gattenwahl. Aus der bloßen An- 
führung dieser Kapitelüberschriften ergibt sich- schon klar die Reichhaltig- 
keit von Hodanns Behandlung des proletarischen Liebeslebens. 

Minna Flake. 

E. C. A, Meyenberjs: Zeugung und Zeugungsregelung: Verlag Bücher- 
gilde Gutenberg, Berlin 1927. 

Das Buch Meyenbergs hat sich durch seine gemeinverständliche Dar- 
stellung und die umfassende Besprechung aller mit dem Geschlechtsleben 
verbundenen Fragen bereits einen größeren Leserkreis erworben. Die 
klare und doch nie vulgäre Erläuterung auch der heikelsten Kapitel macht 
es für den Laien wie für den Arzt zu einer anziehenden Lektüre. Wenn 
auch eine eigene sozialpolitische Stellungnahme vermieden wird, so 
sprechen die dargelegten Tatsachen, besonders bei der Frage des § 218. in 
der Gegenüberstellung der deutschen und russischen Verhältnisse eine ge- 
nügend deutliche Sprache. F. R. 

Emil Höllein. Gegen den Gebärzwang. Der Kampf um die bewußte 
Kleinhaltung der Familie. Mit einem Anhang: Die geschlechtliche 

Aufklärung der Kinder. Selbstverlag Charlottenburg, Horstweg 5. 
Geh. 216 S. 

Es ist stets von Bedeutung, wenn medizinische Fragen unter- dem 
Aspekt des Klassenstandpunktes abgehandelt werden, allein schon des- 
wegen, weil es bisher nur wenige derartige Versuche gibt. Bekanntlich 
ist die überwiegende Literatur unseres Fachgebietes sogenannte „vor- 
urteilslose Wissenschaft“, für der. Marxisten also unter dem Druck 
bürgerlicher Ideologie geschrieben. Wäre das Hölieinsche Buch nichts 
weiter als ein Versuch, die Fragen des Geschlechtslebens in das Bild ein- 
zuordnen, das wir von der bürgerlichen Gesellschau gewonnen haben, 
so wäre es schon darum bedeutungsvoll. 


Bücher und Zeitschriften 


67 


Weitmeh* wird es dies dadurch, daß es, insbesondere durch seinen 
statistischen Teil, recht eigentlich eine Soziologie der Arbeiterklasse in 
nuce bietet. Man fühlt hier nirgends den Autodidakten, überall aber den 
erfahrenen Sozialpolitiken Ausgehend von der Tatsache des Geburten- 
rückganges und de:: öeziehungen zwischen Geburtenhäufigkeit und 
Kindersterblichkeit wird die folge des „Kindersegens“ für die proletari- 
sche Familie geschildert. Dieser Teil ist für den Arzt, dem die Notizen 
über Gebärapparac and Technik der Geburtenregelung im zweiten Teil 
des Werkes nichts neues bieten, der bedeutungsvollste, weil in ihm Ma- 
terial zusaSBQtnengesteilt ist, das andernorts nur mühevoll in dieser Voll- 
ständigkeit gefunden werden könnte. Die Untersuchung mündet in die 
Kritik der geltenden Abtreibungsgesetzgebung, ein Kapitel, das für den 
Kampf um die Strafgesetzreform in den nächsten Monaten gutes Rüst- 
zeug bietet. Eine Reihe Abbildungen erleichtern, dem Laien das Verständ- 
nis. Wie denn betont werden muß, daß das Buch für breiteste Kreise 
bestimmt und lesbar ist. . Max Hodann-Berlin. 

juL Schaxel: Das Geschlecht bei Tier und Mensch. Urania-Verlags- 
Gesellschaft m. b. FL, Jena. In Ganzleinen 2, — M. 

Das populär-wissenschaftlich gehaltene Büchlein gibt an der Hand zahl- 
reicher Bilder einen Ueberblick über die erstaunliche Fülle von Erscheinun- 
gen, die den Geschlechtsvorgang umgeben. Die Herkunft und Reifung der 
■Geschlechtszellen wird geschildert, das Geheimnis der Befruchtung und Be- 
gattung aufgedeckt. An Tatsachen und Beispielen werden die Verhältnisse 
beim Menschen gemessen. Im Schlußkapitel der aufklärenden Schrift wird 
noch ein Blick gewürfen auf das Geschlechtsleben des vergesellschafteten 
Menschen. Schaxel schließt mit den Worten von August Bebel: „Die 
Menschheit wird in der sozialistischen. Gesellschaft, wo sie erst wirklich frei 
-und auf ihre natürliche Basis gestellt ist. ihre ganze Entwicklung nach 
Naturgesetzen mit Bewußtsein lenken. E. F. 

E. Roesle: Paerperalfieber und legalisierter Abortus. Archiv für 
•Soziale Hygiene und Demographie, Band II, Heft 2, 1927. 

Der Prozentsatz der Todesfälle nach Geburt und Fehlgeburt ist Ln 
deutschen Städten 4—5 fach so groß als in Leningrad. In Berlin kamen im 
Jahre 1923 auf 1GG Sterbexäiie bei Frauen zwischen 15 und 40 Jahren 
9,8 Todesfälle nach Fehlgeburt. N .r die Schwindsucht fordert mehr Todes- 
opfer als die Fehlgeburten. In Rußland ist die Legalisierung des Abortus 
ein Mittel’ zur Erhaltung des Lebens von Müttern und zur Verhütung von 
viel Eiend. 

E. Roesle: X. Äftnssischer Kongreß der Bateriologen. Epidemio- 
logen und Sanitätsärzte in Odessa vom . bis 11. Sept. 1926. Sonder- 
abdruck aus dem Reichs-Gesundheitsblatt. 

Dem Kongreß wird von Semaschko und Dobreitzer über die Fort- 
schritte der Sozialen Hygiene und der Bekämpfung der^ Infektionskrank- 
heiten berichtet: Die Pocken sind dank der strikten Durchführung der 
Impfung fast ausgerottet. Dagegen war eine ungeheure Zunahme der 
Masern- und Scharlacherkrankungen festzustellen. Durch ein Gesetz vom 
Mai 1926 über „Sanitäre Aufsicht“ werden den russischen Sanitätsärzten 
weitgehende 'Befugnisse eingeräumt. 

ln den gesundheitschädigenden Betrieben werden regelmäßige ärztliche 
Besichtigungen, Eintragungen in den Gesundheitspaß und statistische Er- 
fassung der Gewerbekrankheiten und Vergiftungen gefordert. 

Franz Rosenthal - Berlin. 

W. M. B r o ■ a ® r : Di# nächsten Aufgaben der höheren medizinischen 
Schule in R. S. F. S. R. 

Im April 1924 wurde die höhere medizinische Schule in Sowjetrußland 
'reorganisiert in der Richtung, daß sie sich zur Aufgabe stellte, einen 
wissenschaftlich-materialistisch denkenden Arzt, einen praktischen Arbeiter 
heranzubüden. der die arbeitenden Massen nicht nur behandeln, sondern 


68 Bücher und Zeitschriften 

auch auf dem hygienisch-prophylaktischen Gebiete ihnen große Dienste 
leisten sollte. Unter diesem Gesichtswinkel wurde ein neuer Schulplan 
ausgearbeitet. Im Zentrum des Unterrichts steht das Studium des mensch- 
lichen Organismus. Daher gründliches Studium der Physologie und der 
biologischen Chemie. Es wurde wieder eingeführt: Geseilschaftskunde,. 
fremde Sprachen, Kriegswissenschaften, Hygiene der Arbeit und der Er- 
ziehung, Geologie sowie ein' - Kursus der sanitären Statistik, Anthropologie 
und Anthropometrie, als ein Teil der sanitären Hygiene. Infolgedessen- 
mußte das Schuljahr von 30 auf 36 Wochen verlängert werden. 

Das Hauptziel der höheren medizinischen Schule besteht. in ihrem engem 
Kontakt mit der Produktion, so daß jeder Mediziner bereits im 3. Semester 
in der Fabrik tätig sein muß. Sämtliche Spitäler, prophylaktische und 
hygienische Anstalten werden als Hilfsbhrir.stitute benutzt und bilden mit 
den Universitätskliniken ein gemeinsames Netz, mit dessen Hilfe die prak- 
tische Arbeit zum Schutz der Volksgesundheit durchgeführt wird. Da- 
durch werden die pädagogischen Möglichkeiten reicher und vielseitiger*. 

Es wurde der Entschluß -gefaßt* das sämtliche JKJiniken dem Volkskom- 
missariat untergeordnet werden. 

Die höhere medizinische Schule soii dem flachen Lande die größte 
Aufmerksamkeit schenken. Aerzte mit großer Erfahrung müssen sechs. 
Monate auf dem Lande arbeiten, um die Lebensverhältnisse des Landes- . 
kennenzulernen. Aus demselben Grunde muß jeder Mediziner auf dem 
Lande tätig sein, sowie ganze Studentengruppen mit ihren Lehrern einige- 
Mal im Jahr aufs Land hinausfahren. Die Ausbildung der Aerzte in. 
Sowietrußland, den Bedürfnissen der Sowjetmedizin entsprechend, läßt 
sich "durchsetzen nicht nur durch harmonische Zusammenarbeit von Nar- 
kompros. Narkomzdraw und Medsantrud im Zentrum, sondern auch von, 
der. lokalen Organen in der Provinz. F. J. 

Bericht über den 3. Deutschen WohuungSfürsorgetag in Tetschen. 

Verlag der Dtsch, Hauptstelie für Wonnungs- und Siedlungsfrage. Prag IV.. 

Dieser Bericht über die interessante Tagung am 6. und 7. November 
1926 enthält neben dem Referat des Gen. Th. Gruschka über „Das. 
Wohnungsminimum“, das wir bereits referiert haben, den Vortrag des- 
Stadtbaudirektors Dr. Franz M u s i 1 - W i e n über „Die Bekämpfung; 
derWohnungsnotdurch dieStadtWie n“. Die Wohnverhält- 
nisse Wiens waren in der Vorkriegszeit besonders unbefriedigend. Wieh 
hatte teuere und schlechte Kleinwohnungen. Arbeiter und Angestellte: 
mußten durchschnittlich ein volles Viertel ihres Monatseinkommens _ für 
den Mietzins: einer -Wohnung ausgeben, die' weder nach dem Fiächen- 
ausmaße, noch nach der Ausgestaltung halbwegs befriedigend war. Kenn- 
zeichnend ist es, daß die in den letzten neun'Vorkriegsjahren (1905—1913)' 
errichteten, nach damaliger Auffassung modernsten Häuser nicht weniger 
als 598 Wohnungen im Kellergeschosse haben. ' Die Bekämpfung der 
Wohnungsnot und des Wohnungselends ist im sozialistischen Wien der 
wichtigste Zweig der öffentlichen Verwaltung ge- 
worden. Der Wiener Gemeinderat beschloß im September 1923, 'in den 
folgenden fünf Jahren, durch Errichtung von Wohn- und Siedlungsbauten' 
iährlich 5000 Wohnungen samt einer entsprechenden Anzahl von Geschäfts- 
räumen und Werkstätten mit den Mitteln einer ertragsreichen Wohnbau- 
steuer herzustellen. Dieses gewaltige 25 000 Wohnungen-Programm wird' 
nach dem Stande der bisherigen Arbeiten poch vor > 1928 bewältigt sein. 
Wenn man bedenkt, daß diese Wohnungen von durchschnittlich 3 — 4 Per- 
sonen benutzt werden, so kommt dies der Erbauung einer großen neuen 
Stadt mit 75 000 bis 100 000 Einwohnern gleich. • 

Bei den Gemeindebauten werden grundsätzlich 50 Prozent der Jje- 
iändefläche unverbaut ir. Hofform gelassen. Es werden so große Hö.e 
erzielt, daß sie eine gärtnerische Ausschmückung zulassen und caher die 
Sonne möglichst alle Rä:.x»e erreichen kann. Jede Wohnung enthält den 
mit Wasserspülung versehenen Abort im Wohnungsverschluß, tunlichst vom 


B'lcher und Zeitschriften 


69 


einem kleinen Vorraum aus zugänglich. Die Küche wird derzeit noch fast 
durchweg als Wohnküche uusgcbildet, nach Tunlichkeit ist eine kleine 
Kochnische vorgesorgi. Der althergebrachte, die Wohnung verschmutzende 
Kohlenherd erscheint nicht mehr, an seine Stelle ist der blitzblanke rein- 
liche Gasherd getreten. Elen tri;. ch.es Licht wird eingelcitet. In den groben 
Wohnhausanlagen, die über 400 Wohnungen aufw’eisen, werden auf das 
modernste eingerichtete Dampfwäschercien vorgesehen. Ferner ist durch 
der. Einbau von Badeanlagen in den größeren Wohnhäusern wenigstens 
ein wesentlicher Fortschritt zu verzeichnen. Auch für Einrichtung von 
Kindergärten ist gesorgt, ebenso finden wir Vorsorgen für Volksbüchereien, 
Tuberkulose- und Mütterberatungsstellen etc. Wie groß die Leistung der 
Gemeinde für die arbeitenden Klassen ist, wird noch deutlicher, wenn man 
die niedrigen Mietzinse in Betracht zieht. Die Gesamtausgabe für Miete 
und Wohnbausteuer für die vorwiegende Wohnungstype, bestehend aus 
einem kleinen Vorraum, Wohnküche und Zimmer, mit Gasherd, elektr. 
Beleuchtung, Wasserleitung und Sturzklosett, kann mit rund 8 — 11 Schilling 
(5 — 6 Mark) monatlich beziffert werden. Es wäre zu wünschen, daß 
andere Kommunen, z. B. Berlin mit seiner sozialistischen Mehrheit, dieses 
.soziale Werk, das in Wien vollbracht "wird, aufmerksam studieren uad ent- 
sprechende Maßnahmen für Deutschland vollbringen. E. Fabian. 

Victor Noack: Die staalpolitische Bedeutung der Wohnungsnot als 
Sexuaiproblem. 

In der Zeitschrift „Der Zusammenschluß“, Verlag Scheller, Berlin SW 68. 

Verfasser fordert, daß der Staat, solange er die Wohnungsnot von 
Millionen Staatsbürger nicht beseitigen kann, Forderungen, die normalen 
Wohnungsverhältnissen angepaßt waren, heutigen Verhältnissen ent- 
sprechend lockern muß. Das Wohnungselend als ständig gewordenes 
Uebel erschüttert tatsächlich die überlieferte sittliche Gesellschaftsordnung. 
Hindenburg hat zwar Wohnungen verheißen, worin „deutsches Familien- 
leben und der Aufwuchs an Leib und Seele gesunder Kinder möglich ist“. 
Dasselbe Versprechen gibt dem deutschen Volke der Artikel 155 der 
Reichsverfassung: „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen 
deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen 
entsprechende Wohn- oder Wirtschaftsheimstätte“. — Heute kann jeder 
Deutsche, der einige tausend Mark dafür auszugeben vermag, sich eine 
solche Wohnung kaufen. Wer aber kein Geld hat, der kommt auf die 
Wohnungsliste der Aussichtslosen. Mit Heinrich Heine heißt es: 
„Wenn du aber gar nichts hast, Lump, so laß dich begraben. 

Denn ein Recht zum Leben haben nur, die etwas haben.“ 

Verfasser appelliert schließlich an die Regierung,' zu verhüten, daß der 
Großgrundbesitz sich weiterhin an einem Wertzuwachs bereichere, der ihm 
nicht auf Grund produktiver Arbeitsleistung zukommt. Uns erscheint es 
bedeutsamer, daß die breiten Volksmassen, die zu diesem schmuck- und 
freudlosen Dasein in Elendslöchern gezwungen sind, sich zum entschlosse- 
nen Kampf gegen die Ursachen dieses Systems zusammenfinden. F. 

Mieterschutz, Zeitschrift für die Interessen der Mieterschaft und die 
gesamte Wohnungspolitik. Organ des Verbandes Berlin im Reichsverband 
Deutscher Mieter. Bcrlin-Charlottenburg. Sybelstr. 11. 

Max Hodaan: Sexualgefährdung und Sexualaussagen der Kinder. 
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege und soziale Hygiene, 1927. Nr. 3. 

Die ungeheure Wohnungsnot und die Erschwerung der Eheschließung 
bewirken, daß heute bereits Kinder jüngerer Jahrgänge in viel größerer 
Zahi, als Lehrer, Aerzte und Eltern vermuten, über Fragen des Ge- 
schlechtslebens und der Fortpflanzung naphdenken und sich Kenntnisse 
darüber zu verschaffen suchen. Dfe Schäden dieser • Belebung der 
Sexualphantasie werden allgemein überschätzt. — Verf. veranstaltete 
auf Veranlassung des Elternbeirats und der Lehrerschaft einer Berliner 


70 


Bücher und Zeitschriften 


Volksschule einen Ausspracheabend über derartige Fragen in Gegenwart 
der Eltern. Die große Zahl von Fragen, die im einzelnen im Original 
nachzulesen sind, bezog sich in erster Linie auf die Gebiete der Krank- 
heiten der Geschlechtsorgane, der Fortpflanzung, der sekundären Ge- 
schlechtsmerkmale und bei den Mädchen aui die Vorgänge der inen- 
struation und Geburt. Bei ernster und wahrheitsgemäßer Beantwortung 
der Fragen wird die ursprünglich vorhandene Spannung der Kinder be- 
seitigt, die hervorgerufen wird durch die Befangenheit der erwachsenen 
bei der Behandlung von Fragen des Geschlechtslebens. 

Diese Geheimniskrämerei der Erwachsenen hat nicht selten für diese 
selbst so z. B. für Lehrer, unangenehme Folgen, indem sie bei den 
Kindern zu aufgebauschten und unwahren Aussagen bei senchthchen ^und 
polizeilichen Vernehmungen- über angebliche Quer täisäcnnCne Suiucn- 
keitsdelikte führt. 1 Ein ausführliches Gutachten, uas von H. gemeinsam 
mit Magnus Hirschfeld erstattet wurde, wird mitgcteilt. Ein Reisender 
wurde durch aufgeregte und übertriebene Aussagen von einem Kinde 
und einer Erwachsenen zu Unrecht in die Gefahr einer Anklage wegen 
Sittlichkeitsvergehens- gebracht. Erörterung der psychologischen Ge- 
sichtspunkte bei Verwertung derartiger Kinderaussagen. 

G. Benjamin. 

Gesundheitsbibliothek. Verlag G. Birk & Co., München 1927. 

1. Der Mensch, sein Körper und seine Lebenstätigkeit. Stadtrat Dr. 

M. H o d a n n - -Berlin. 

2. Gesundes und krankes tsiut. Dr. A. N e u m a n n - Wien. 

3. Wie erhalte ich meinen Säugling gesund? Dr. C. Frankenstein- 

Berlin. .... , 

ä. Erkältung und Abhärtung. Dr. I. Ma r c u s e - München 

Die in dem bekannten Münchner Verlag erscheinenden Gesundheits- 
schriiten für das werktätige Volk wollen ebenso wie die vor zwei Jahr- 
zehnten unter Leitung unseres Gen. Zatiek ^ eraus f ge ? e ^ en p ip ^{l eit d e e‘ 
Gesundheitsbibliothek Aberglauben und Vorurteile auf dem Gebiete der 
persönlichen Gesundheitspflege bekämpfen una aas Verständnis dei 

modernen Hygiene fördern. Die ersten vorliegenden Hefte erfüllen- ihre 
Aufgabe vortrefflich, für die Güte der nachiolgenden bürgen die Be- 

arbeiter unsere Genossen Drucker, Juliusburger, Lowenstein, Prof- 
Knack ü. a. Jedes Heft in gutem Druck und geschmackvollem Umschlag 
kostet -nur 50 Pf. So ist dieser Bibliothek in der Arbeiterschaft ganz, 
besonders, weil ihr einziges Gut die Gesundheit ist, die weiteste Ver- 
breitung zu wünschen. Die Hefte eignen, sich auch zur Letvuire in 
Wartezimmern der Kollegen. 

Theodor Gruschka: Beistand oder Beitrag? Soziale Rundschau 

Nr ’ Gruschka wendet sich in diesem Aufsatz gegen die mangelhaften 
geburtshilflichen Leistungen der meisten tschechischen Krankenkassen 
ver'angt statt des meist üblichen und gesetzwidriger. Beitrags für Heb- 
ammenkosten, der diesen Aufwand der Entbindenden niemals voll deck., 
sondern meist nur zu einem geringen Teil, den Hebammenbeistand also 
die unentgeltliche Stellung der Hebammen — oder Arzthilf e durch die 
Krankenkasse. Er verlangt .diesen Beistand aus Rucksich i für die Gesund- 
heit der jungen Mütter und gleichzeitig zur Sicherung, zur sozialen und 
moralischen Hebung des Hebammenstandes. Gen. Gruschka vertritt hier 
der Standpunkt des sozialistischen Arztes, und wir müssen uns — für ganz 
Deutschland — ihm in dieser Forderung anschlieuen. r - 

illustrierte Geschichte der Russischen Revolution. Neuer Deutscher 

Verlag, Berlin NW, 1927. ' , . 

Dieses erste in deutscher Sprache erscheinende zusammenfassende 

Werk -der russischen Revolution erscheint in 20 Lieferungen und wird im 


Lädier und Zeitschriften 


71 


Oktober d. J. als abgeschlossenes Buch herauskommen. Bisher sind 
4 Hefte erschiene". Das Werk enthält Originalaufsätze als kritisch- 
historische Einführungen in die einzelnen Abschnitte, unveröffentlichte Er- 
innerungen von Teilnehmen! der Revolution mit einer großen Zahl von 
Originalphotos, Kunstbeilagen ui.d wichtigen historischen Dokumenten. Bei 
dieser Arbeit haben die hervorragendsten Führer der Russischen Revolution 
wie Lenin, Trotzky. Bucharin, Lunatscharski mitgewirkt. 
Heft 1 behandelt die Voraussetzungen der Revolution den Jahres 1917. 
Der Preis der Gesamtausgabe beträgt Mk. 12,—. 


„Russische Skizzen zweier Arzte“. Von Lothar Wolf und Martha 
Ruben-Woif, Berlin. Viva 1927. 

Ihre in leichtem Plauderten geschriebenen Reiseerlebnisse benutzen 
die Verfasser, um wichtige soziale Probleme, wie die Fürsorge iür Mutter 
und Kind, für die Prostituierten und den Strafvollzug eingehend und ver- 
ständlich zu erläutern. Verf. weisen darauf hin, daß in Rußland die Be- 
nutzung des Volkseigentums, wie Kurorte, Museen usw. den breiten Massen 
ermöglicht wird. Der Kampf gegen das Analphabetentum spielt bei der 
Erziehung der verwahrlosten Kinder ebenso wie bei dem Unterricht der 
human behandelten Strafgefangenen eine hervorragende Rolle. 

Franz Rosenthal. 


„Was ist und was will die Gruppe ireior Menschen?“. Schriften für 
Volksgesundheit. Heft 11. 

Die proletarische Nacktkulturbcwcsung propagiert P°.den, * urnen und 
Spielen in freier Natur unter völligem Ausschluß von Nikotin und Alkohol. 
Durch Anlage von Schrebergärten, Spielplätzen, Licht- und Wasserbädern 
soll dem Proletariat ein Gegengewicht gegen die Fron in den Fabriken ge- 
schahen, durch Führungen und Vorträge das geistige Leben der Mitglieder 
gefördert werden. Daß die Behörden aus Prüderie diesen Veranstaltungen 
Schwierigkeiten bereiten, muß man umso mehr bedauern, als die praktische 
Bekämpfung der Rauschgifte eine der wichtigsten sozialen Aufgaben^ist. 


Die Neue Generation. Herausgeg. von Dr. Helene Stöcker, 

Berlin-Nikolassee. . 

Aus dem reichen Inhalt des Juni-Heftes erwähnen wir: Siegt r. 
Weinberg: Abtreibungen in der Kriminalstatistik: Max Hcdann: 
Proletariat und Sexualität; Trifft § 218 die Schuldigen? 


Die Volks gesundheit, herausgegeben von der Deutschen Arbeitsgemein- 
schaft für Tuberkulosebekämpfung. Schriftleitung: Dr. Frank Swoboda- 
Prag 11/499. 


Abdruck der Beiträge ist mit Genehmigung der Redaktion und unter 

Quellenangabe gestattet 


Der vorliegenden Nummer Hegt ein Prospekt vom Greiieaverlag zu Rudolstadt In Thüringen 
bei mit dem Hinweis an! das soeben erschienene Ehebuch „Geschlecht und üieöe“ unseres 
Genossen Max Hodann, das wir der besonderen Beachtung unserer Leser empfehlen 


Preis dieses Doppelheftes 1,00 Mk. Man abonniert für 4 Hefte zum Preise von 
2 Mk. bei dem Verlag Dr. Rosenthal, Berlin- Wilmersdorf, Kaiserailee 175. 
Für die Schriftleitung bestimmte Zuschriften sowie Rezensionsexemplare sind 
zu richten an Dr. Ewald Fabian, Berlin W 15, Uhlandstr. 5^. 


Verantwortlich für die Redaktion: Ewald Fabian, Berlin W 15, Uhlandstr. 25 
Für den Verlag: F. Rosenthal, Berlin -Wilmersdorf. Anzeigen-Annahme durch 
Rud. R. Sternfeld & Co., W 57, WinterfeldstraBe 20. Druck: Gemeinnützige 
Druckerei Daab (Friedrich Äiewes), Berlin SO 16, Ädalbertstr. 65 


In Oelsnitz (Erzgebirge) ist die neugegründete 

Stadtarzt-Stelle 

baldigst zu besetzen. Bewerbungen mit Gehaitsansprüchen, Lebens- 
lauf und Zeugnisabschriften werden per sofort erbeten. 

Oelsnitz (Erzgebirge), am 7. Juli 1927. 

Der Stadtrat 

■ . — .... 


iriHMiiimrk- 


Äuch aus den Kreisen der Hrzte und 
Wissenschaftler wird das Buch von 


Emil Hollern m. d. r 

GEGENDENGEBÄRZWANG, 

der Kampf um die bewußte Kleinhaltung der Familie 


mit einem Änhang: „Die geschlechtliche Aufklärung 
der Kinder“ als sehr gut und wertvoll bezeichnet. 

Frei von politischen Tendenzen. Das Buch enthält 
7 Abbild. und viel statistisches Material 
für unsere Kollegen. Es sollte in keiner 
Bibliothek fehlen. 

‘ 

I Preis broschiert 3,00 RM / Zu beziehen durch Selbstve rlsg Binii • fr 
Hol lein, Charlottenburg 5, Horstweg Sül, Fernruf:Wilhelm 8738 j 


Heft 4, II. Jahrgang, März 1927, g 

des „Sozialistischen Srzt“ 

hatte folgenden Inhalt: Die Sozialversicherung und die französische 

Ärzteschaft, Paul Nicoiiet-Paris. — Die Not der jungen Hrzte, Leo 
Klauber. — Leitsätze zur sogenannten Eheberatung, Max Hodann. — 
Sexualberatung, Felix Ä. Theilhaber. — Reichswehretat, soziale Für- 
sorge und Volksgesundheit, Ewald Fabian. — Das neue Gesetz zur Be- 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, Georg Löwenstein und Franz 
Rosenthal. — Jungborne für Krankenkassen, Friedrich Wolf. — Kranken- 
kassen und offene Fürsorge in Wien. — Schutz für Mutter und Kind 
in Deutschland. — Ergebnisse des Schutzes für Mutter und Kind in 
Sowjet-Rußland, Sch. Angeluscher. — Zur Reform des medizinischen 
Studiums. Eine Umfrage. Antworten von Rifred Grotjahn und Max 
Hodann. — Rundschau (Albert Kohn, Achtstundentag und Ärbeiter- 
schutzgesetz; Barkenhof; Äikohoiismus; Sowjetmedizin; Zahnärztliche 
Behandlung in Krankenhäusern; Aus der sozialistischen Hrztebewegung ; 
Bücher und Zeitschriften; Briefkasten. 

Preis des Heftes 50 Pfg. durch den Verlag 
F. Bosenihal, Wilmersdorf, Kaiserallee 175 


Ul i mRIlWW IIf lll HIi m i 



BISMOTERRAN 


Kieselsaures Wismut 


bei Sommerdiarrhoen, 

Verdauungsstörungen, Dyspepsie, Kardialgie, 
Durchfall, Dysenterie, Hyperacidität, Hypersekretion 


An i ad dum und Proiectivum. 


Bismoterran ist vollkommen geschmacklos. 


Handelsform: Gläser zu 10 g und Schachteln mit 20 Oblaten zu 0,5 g 


Literatur und Proben zur Verfügung. 


Dr. Georg Heaaing— Beriin-TempeUio! 1. 



Der 

Sozialistischer Ärzte 

beztveckt denZusammenschluß der sozialistischen 
Ärzte zur Erörterung aller das Heil - undGesund- 
heitsivesen betreffenden Fragen und zur Betäti- 
gung in der darauf bezugnehmenden Gesetzge- 
bung und Verwaltung in Staat und Gemeinde. 
Der Verein will auch unter nichtsozialistischen 
Ärzten Aufklärung verbreiten über die Ziele der 
sozialistischen Arbeiterbeivegung und unter den 
Parteigenossen das Verständnis fördern für die 
Bedeutung der Ärzte und der sozialistischen Ge- 
sellschaft. 

Mitglied kann jeder Arzt werden, der sich zum 
Sozialismus bekennt. Der Beitrag beträgt 5 RM 
halbjährlich. Beitrittserklärungen sind an den 
Schriftführer Gen. Ewald Fabian, W15, Uhland- 
straße 52, zu richten.